Vor fünfzig Jahren erschütterte ein Elementarereignis die Weltliteratur

Für Lateinamerika bedeutete Gabriel García Márquez' «Hundert Jahre Einsamkeit» 1967 eine kulturelle Zeitenwende. Zum Jubiläum erscheint eine Neuübersetzung, die das Original noch schöner zum Leuchten bringt.

Albrecht Buschmann
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Im Handstreich gelang Gabriel García Márquez das Meisterwerk: Die Grossmutter flüsterte es ihm ein. (Bild: Sally Soames / Camera Press / Keystone)

Im Handstreich gelang Gabriel García Márquez das Meisterwerk: Die Grossmutter flüsterte es ihm ein. (Bild: Sally Soames / Camera Press / Keystone)

Zwanzig Jahre lang hatte der Journalist und wenig erfolgreiche Romancier Gabriel García Márquez ein Romanprojekt mit dem Arbeitstitel «Das Haus» bebrütet, in dem er die Geschichte seiner Familie und seiner karibischen Heimat erzählen wollte. Doch er fand keinen Ton für die Erzählung, keine Haltung zur Geschichte, keinen Ausweg aus seiner Schreibkrise.

García Márquez lebte damals mit seiner Familie in Mexiko; auf dem Weg in die Strandferien in Acapulco las er ein Buch des Mexikaners Juan Rulfo, in dem man erst recht spät merkt, dass all die realistisch beschriebenen Figuren Tote sind, was für den Erzähler kein Problem zu sein schien.

So hatte Márquez' Grossmutter ihm als kleinem Kind Familiengeschichten erzählt, in denen wild durcheinander Tote und Lebende auftauchten, dazwischen karibische Märchen oder Anekdoten vom Bürgerkrieg – in einem Ton unhinterfragten Einverständnisses noch mit den unglaublichsten Begebenheiten.

Genau so, das ging Márquez nun auf, würde er seine Geschichte erzählen: «Das erste Kapitel hätte ich sofort einer Sekretärin diktieren können», behauptete er später. Am nächsten Morgen kehrte die Familie in die Stadt zurück, das Auto wurde verkauft, so dass für sechs Monate Geld im Haus war. Sechzehn Monate später war der Roman fertig und die Familie hoch verschuldet.

Ein verwegenes Buch

Aber Márquez war sich sicher, endlich das Buch geschrieben zu haben, mit dem er sich einen Namen machen würde, so wie er es seiner Frau vor der Hochzeit versprochen hatte. Und so kam es: Innerhalb weniger Monate nach dem Erscheinen in Buenos Aires war das Buch in ganz Lateinamerika Tagesgespräch, fünf Jahre später in die wichtigsten Sprachen übersetzt, fünfzehn Jahre später brachte es ihm den Literaturnobelpreis ein.

Ob diese Entstehungsgeschichte der Wahrheit entspricht oder ob auch sie schon Teil der mythischen Erzählung um den Roman ist – fest steht: «Hundert Jahre Einsamkeit» hat die Wahrnehmung der lateinamerikanischen Literatur in der Welt verändert wie kein anderes Buch. Dabei ist es in keiner Weise repräsentativ für die Romanästhetik seiner Zeit. Seine Vision der Geschichte des Kontinents ist weder so analytisch wie bei Fuentes noch so durchdacht experimentell wie bei Vargas Llosa, noch so sprachschöpferisch wie bei Carpentier. Aber es ist verwegen.

In seinen früheren Büchern habe er nichts riskiert, erklärte Márquez später, nun habe er immer am Abgrund entlang geschrieben, an der Grenze zwischen Erhabenem und Alltäglichem. Deshalb verwandelt sich die Chronik der Familie Buendía zu einer Welterzählung, weitet sich also zu einem Grossroman von der Genesis bis zur Apokalypse. Zugleich entfaltet sie einen derartigen Reichtum an Figuren, Episoden und Details, die durch derart mächtige Gefühle und Leidenschaften in Bewegung versetzt werden, dass zwischen grosser Oper und Soap, zwischen mythischem Atem und alltäglichem Stöhnen nicht zu trennen ist.

Ein Neuland für Leser

So etwas musste für deutschsprachige Leser höchst befremdlich wirken, als der Roman 1970 erstmals auf Deutsch erschien. Denn weder wusste man hierzulande von der literarischen Vorgeschichte dieses Schreibens bei Autoren wie Asturias, Rulfo oder Carpentier, noch kannte man die karibische Welt, aus der heraus Márquez erzählte. Es existierte schlicht keine deutsche Sprache für diese Art zu schreiben, und es gab auch noch keine Übersetzer, die mit so etwas Erfahrung gehabt hätten.

Damals war es ein Glücksfall, dass Curt Meyer-Clason die Übersetzung übernahm, der als Autor und Portugiesisch-Übersetzer über ein reiches Repertoire sprachlicher Register verfügte, sich ausserdem mit grosser Begeisterung der Vermittlung lateinamerikanischer Literatur verschrieben und selbst lange in Brasilien gelebt hatte.

Das Werk ist zum Klassiker gereift und die Neuübersetzung ein weiterer Baustein seiner Kanonisierung.

Wenn Dagmar Ploetz, die seit den 1980er Jahren die Márquez-Übersetzerin ist, heute «Hundert Jahre Einsamkeit» erneut ins Deutsche bringt, ist ihre Lage mit der vor fünfzig Jahren überhaupt nicht zu vergleichen: Neue Wörterbücher und professionelle Übersetzer-Blogs helfen, noch die kniffligste Vokabel oder Formulierung aufzuschlüsseln; Dutzende akademische Studien sowie kommentierte Ausgaben des Romans erklären Satzbau, Leitmotive oder literarische Verweise. Und vor allem: Heutige Leser haben eine Ahnung, was sie bei Márquez erwartet, kennen ihn und andere lateinamerikanische Autoren und vielleicht sogar die Karibik.

Das Fremde der Welt von Macondo ist heute auch als literarisch bearbeitete Fremde wahrnehmbar, und Márquez' wilder Ritt durch die Geschichte Amerikas, dessen zirkulärer Strudel einst den Atem stocken liess, mutet nach all den postmodernen Geschichtsdekonstruktionen der 1990er Jahre heute fast an wie klassische Epik. Das Werk ist zum Klassiker gereift und die Neuübersetzung ein weiterer Baustein seiner Kanonisierung.

Im Angesicht des Todes

«Viele Jahre später, vor dem Erschiessungskommando, sollte Oberst Aureliano Buendía sich an jenen fernen Nachmittag erinnern, als sein Vater ihn mitnahm, das Eis kennenzulernen.» Mit diesem Satz, der weit vorausblickt auf die Hinrichtung einer der Hauptfiguren und zugleich zurückzoomt in eine Erzählgegenwart, in der das Eis etwas Aussergewöhnliches sein soll, hebt der Roman in Dagmar Ploetz' Übersetzung an.

Heute beginnt er also tatsächlich im Angesicht des Todes, der im Spanischen ebenfalls, und auch hier hervorgehoben durch Kommata, die erste Zeile dominiert: «Muchos años después, frente al pelotón de fusilamiento, el coronel Aureliano Buendía . . .» Bei Meyer-Clason konnte man über die Todesgefahr leicht hinweglesen: «Viele Jahre später sollte der Oberst Aureliano Buendía sich vor dem Erschiessungskommando an jenen fernen Nachmittag erinnern . . .»

Das Unerhörte dieses Anfangs, der den Helden schon dem Tod überantwortet, bevor die Erzählung seines Lebens anhebt, wird in der neuen Fassung sofort erkennbar, und damit zugleich die erste der Maximen von Dagmar Ploetz: Vertraue den Betonungen, die der spanische Text setzt. Leider kann auch sie nicht aufnehmen, dass die Präposition «frente a» stärker als das deutsche «vor» (das auch zeitlich verstanden werden kann) betont, dass hier von einer räumlichen Konfrontation die Rede ist.

In den folgenden Sätzen beschrieb Meyer-Clason die Welt jenes vorgeschichtlichen Macondo, wo das Wasser im Fluss «dahineilt» und die Dinge der Welt «des Namens entbehrten». Im Spanischen stehen an dieser Stelle Allerweltsvokabeln, die der Reporter García Márquez auch in seinen journalistischen Texten zur Beschreibung der Wirklichkeit verwendete. Entsprechend heisst es nun bei Ploetz, dass das Wasser im Fluss «dahinschoss» und «die Dinge noch keinen Namen hatten».

Zweites Prinzip der Neuübersetzung also: Bleibe sachlich-beschreibend, wo Márquez schlicht sachlich beschreibt; denn es ist nicht mehr nötig, dem Roman durch die Wahl eines gehobenen Registers literarische Dignität angedeihen zu lassen. Einfache Worte statt gesucht literarischer Ausdruck: Diese kleine Massnahme wird im Verlauf der Lektüre mächtig Wirkung entfalten, weil nun der Kontrast zwischen dem ausufernd-übertreibenden Duktus des Erzählers und seiner nüchternen Präzision im Detail wahrnehmbar wird.

Erklären statt übersetzen

Noch immer auf der ersten Seite lesen wir: Bevor die Zigeuner mit dem Eis nach Macondo kamen, «brachten sie den Magneten mit», heisst es bei Ploetz, was in Register, Ton und Bedeutung dem Spanischen («llevaron el imán») genau entspricht. In der alten Version hingegen «zeigten sie den Magneten». Der Unterschied mag nicht gross sein (zumal wir im Folgenden lesen, dass sie den Magneten tatsächlich herumzeigten), aber er lässt die Haltung erkennen, mit der Meyer-Clason daranging, dem Publikum der 1970er die fremde Welt zu vermitteln: indem er durch seine Wortwahl im Zweifelsfall sowohl übersetzte wie vor allem erklärte.

Meyer-Clasons Neigung zum Erklären ging leider immer wieder so weit, dass er sich in schwerer verständlichen Passagen gern zum Interpretieren verlocken liess. Schauen wir auf eine der Passagen, in denen Márquez das «Erhabene», wie er es nannte, inszeniert. Mit einer Expedition durch den Urwald will José Arcadio herausfinden, wo überhaupt Macondo liegt.

Je tiefer er mit seinen Männern in den Dschungel eindringt, desto beklemmender werden Vegetation und Dunkelheit, «und die Welt wurde für immer trostlos», in diesem «Weltall des Albtraums». Im Spanischen wird die Welt schlicht «traurig» («triste»), und die Männer taumeln durch einen dunklen, schwül-heissen, bedrückenden Urwald: ein «Universum der Schwermut», so Ploetz («universo de pesadumbre»).

«Die Dinge haben ein Eigenleben, es geht nur darum, ihre Seele zu wecken.»

Wohlgemerkt: Jede Übersetzerin interpretiert beim Übersetzen, weil nur ein verstandener Text übersetzt werden kann. Aber am Ende aller Interpretationsschritte darf nicht, wie man bei Meyer-Clason zu oft den Eindruck hat, die eigene Interpretation auf dem Papier stehen, sondern nur ein deutscher Text, der möglichst viele der Interpretationen offenhält, die auch der spanische anbietet.

«Die Dinge haben ein Eigenleben, es geht nur darum, ihre Seele zu wecken.» So erklärt der Zigeuner Melquiades die Wirkung des Magneten. Damit ist, kaum versteckt, die Haltung benannt, mit der García Márquez die Welt in seinen Roman holt: indem er die Seele der Dinge und Erscheinungen zeigt. Seine Sprache dafür ist sehr präzise, kontrastreich und klar. Dagmar Ploetz folgt dieser Vorgabe und öffnet nun auch im Deutschen einen klaren Blick in die schillernde Seele von «Hundert Jahre Einsamkeit».

Gabriel García Márquez: Hundert Jahre Einsamkeit. Roman. Übersetzung aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017. 528 S., Fr. 35.90.