Friede für Fanatiker

Harsche Statements und harmonische Verbrüderung: Am Jazzfestival Schaffhausen 2017 erlebt man Wechselfälle musikalischer Beziehungen.

Ueli Bernays
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Ghost Town bringt Geister der Vergangenheit in die musikalische Gegenwart. (Bild: Simon Tanner / NZZ)

Ghost Town bringt Geister der Vergangenheit in die musikalische Gegenwart. (Bild: Simon Tanner / NZZ)

Musik ist keine Sprache. Und Sprache ist nicht Musik. Leider! Leider fehlen dem menschlichen Reden die musikalischen Verfahren der Mehrstimmigkeit und fehlt mithin die Möglichkeit, etwas zu sagen und gleichzeitig einem anderen zuzuhören. In der sprachlichen Kommunikation gibt es immer den Graben zwischen Sendern und Empfängern, aus dem die Teufelchen der Macht, Verführung und Manipulation klettern.

Gerade deshalb wohl darf mehrstimmige Musik und vorab der improvisierte Jazz immer wieder als utopisches Modell eines friedlichen, familiären Miteinanders herhalten. Bevor man aber gleich abwinkt und lächelt über die Naivität solch strapazierter Analogie, sollte man sich doch fragen, was einen mitunter begeistert in begeisternden Konzerten. Die Virtuosität, die Originalität der Solisten? Aber sind wir nicht auch ergriffen, wenn widerstreitende Geister zusammenfinden in der Einheit lebendiger Form?

Rausch und Rauschen

Am Freitagabend etwa steht am Jazzfestival Schaffhausen 2017 Pilgrim auf dem Programm. Der Auftritt beginnt mit einem Ambient-Rauschen und führt zuletzt in einen finalen, pathetischen Rausch, samt beruhigender Coda. Dazwischen aber liegen Soli, Duette und Tutti; und es gibt Stationen sphärischer Klangmalerei, hymnischer Steigerungen, elegischer Einkehr, tänzerischer Lockerung, elegischer Strenge und lakonischer Reduktion.

So streng und unerschütterlich scheinen dabei formale Logik und expressive Dramaturgie, als habe hier ein Richard Strauss für einmal das Genre gewechselt. Dabei handelt es sich um ein kongeniales Gemeinschaftswerk, um den Sound einer Band, in der fünf Musiker, Künstler, Eigenbrötler zusammenkommen. Hier sind fünf Fanatiker, die ihr Leben auf dem Weg zur Selbstverwirklichung den Tönen und ihrer tönenden Gerätschaft widmen – stur wie Bergsteiger, zäh wie Mönche.

Wahrscheinlich würden die missionarischen Egos streitend aneinandergeraten, würde ihr Eigensinn nicht ausbalanciert durch die Gabe des Zuhörens und Antwortens. Dank dieser quasi demokratischen Begabung stricken sie an einem gemeinsam improvisierten Werk, in dem zwischen den rituellen Eckpunkten der Form die Farben individueller Profilierung zum Ausdruck kommen.

Fanfaren und Signale

Der Bassist Raffaele Bosshard schafft es, sich aus einem einfachen Motiv einen weiten solistischen Spannungsbogen zu schlagen und eine Brücke zu bauen in einen neuen Teil. Michi Stulz setzt die Rhythmik durch Sensibilität unter Strom. Stefan Aeby generiert am Piano Wärme durch seine beseelten Akkorde. Dave Gisler sorgt für fiebrige Spannung mit seiner Virtuosität.

Die Bedeutung von Christoph Irniger, dem Pilgrim-Leader und Saxofonisten, soll damit nicht relativiert werden. Er legt das kompositorische Material vor. Und wie ein furchtloser Hüne steht er dann konzentriert an der Bühnenfront, um zunächst ganz auf seinen Sound zu vertrauen. Wie ein Signalhorn ergreift und packt einen sein Saxofon an der Seele, wie eine biblische Fanfare scheint es schon von Untergang oder Erlösung zu künden, bevor sich lange Einzeltöne langsam, aber sicher über Intervalle und kürzere Motive in virtuose Phrasen steigern, die sich ausnehmen wie Sinnsprüche im symphonischen Ganzen.

Rappen über Jazz

Pilgrim setzte den Höhepunkt des ohnehin hochstehenden und gutbesuchten Festival-Wochenendes im Kulturzentrum Kammgarn. Auch im Trio des Saxofonisten Simon Spiess herrschen aber Konzentration und Empathie. In kammermusikalischer Intimität werden in kleinen Motiven grosse, epische Bögen geschlagen. Wobei sich die dynamische Spannung dann und wann auch verabschiedet, um einer etwas schläfrigen Schönheit Platz zu machen. Gut, dass Bänz Oester am Bass seine elegischen Soli immer wieder durch metallische und hölzerne Sounds aufraut. Gut auch, dass Rapper Nya durch die Eleganz seiner Verse das Zusammenspiel zuweilen dramatisch überhöht.

Das hochkarätig besetzte Quintett Roofer wiederum (mit dem Pianisten Yves Theiler, dem Saxofonisten Michael Jaeger, dem Posaunisten Maurus Twerenbold, dem Drummer Michi Stulz und der Sängerin Isa Wiss) interpretiert die Musik seines Leaders und Bassisten Luca Sisera, der Eindrücke eines längeren New-York-Aufenthaltes in erzählerisch-programmatische Kompositionen gefasst hat.

Wo immer sich die Musik in Riffs und satten Bläsersätzen verdichtet, reisst sie einen mit. Dann wiederum mäandert sie plötzlich durch undefinierte Zonen, die im freien Zusammenspiel erkundet werden. Es lauert dabei eine gewisse Gefahr, dass zwischen verschiedenen Ansprüchen – freie Improvisation und Klangmalerei, Funk und «Guggenmusik» – der künstlerische Fokus, der rote Faden der Komposition, verloren geht.

Kontrastprogramme

Für ein lockeres klangliches Kontrastprogramm sorgte dann zum einen das Trio des Westschweizer Pianisten Florian Favre. Seine griffigen Kompositionen sind Kabinettstücke virtuosen Raffinements und spielerischer Effekte. Es mag etwas an Raum für ein spontanes Interplay fehlen. Favre selber aber zeigt sich in rhapsodischen, sagbaren Motiven als ein gewiefter Improvisator – mit zwei rechten Händen.

Einen ganz eigenen Sound präsentierte das Quartett Ghost Town, das in Schaffhausen das neue Album «No Depression In Heaven» taufte. Die Band taucht sozusagen in die tiefen, archaischen Vorzeiten von Blues und Jazz, um dem heutigen Publikum uralte Songs zugänglich zu machen. Dabei beweisen Bandleader und Gitarrist Urs Vögeli und seine Kollegen einerseits historisches Feingefühl und Sinn für die alten Sounds. Andrerseits finden sie über Anklänge an Punk, No Wave und Hip-Hop einen direkten Zugang zur Gegenwart.

Der Schlagzeuger Lukas Mantel und der Bassist Claude Meier legen die federnden Beats vor, über denen sich Vögeli an Gitarre und Steel-Guitar solistisch in Szene setzt. Die suggestive Ausdruckskraft, die expressive Dröhnung aber verdankt man der Vokalistin Joana Aderi: Sie rappt von Liebhabern, die ihre Frauen töten; sie flüstert von Frauen, die ihre Männer morden, und sie singt von Pfarrern und traurigen Beerdigungen.