John Brockman: Zeremonienmeister im Cyber-Salon

Seit einem halben Jahrhundert regt John Brockman Künstler und Wissenschafter zu innovativen Fragestellungen an. Seine Website Edge.org hat sich als Forum für zukunftsweisende Ideen etabliert.

Andrea Köhler
Drucken
John Brockman - ein rastloser, zupackender Geist. (Bild: A3 / Contrasto / Dukas)

John Brockman - ein rastloser, zupackender Geist. (Bild: A3 / Contrasto / Dukas)

Was ist ein «kultureller Impresario»? Der Ausdruck fällt öfter, wenn von John Brockman die Rede ist, ebenso wie die kuriose Prägung «intellektuelles Enzym». Letztere hat ein Freund Brockmans in die Welt gesetzt – wohl um auszudrücken, dass dieser nicht nur ist, was er zu sein scheint: ein gewiefter und von Verlagen gefürchteter Buch-Agent, bekannt dafür, erstaunliche Summen für seine Klienten herauszuholen. Nun ja, der Mann hat sein Handwerk im Bankenwesen gelernt.

Was Brockman zu einem «major player» in kulturellen Belangen macht, ist freilich nicht sein Engagement im Buch-Business – obschon dessen Erlös, wie seine lichtdurchfluteten, minimalistisch eingerichteten Geschäftsräume mit Blick auf das Empire State Building zeigen, ihm zweifellos finanziellen Spielraum verschafft. Den nutzt er, um einer Passion nachzugehen, die unter dem Stichwort «dritte Kultur» firmiert; doch dazu später.

In Warhols «Factory»

Wenn man den Begriff «intellektuelles Enzym» richtig verstehen will, muss man ein paar Jahrzehnte zurückgehen, in die Zeit, da der 23 Jahre junge Brockman tagsüber seinen Geldgeschäften nachging und nachts in die gärende New Yorker Künstlerszene der sechziger Jahre eintauchte. Zusammen mit Sam Shepard und Charlie Mingus stapelte der Banker im Dreiteiler Stühle beim legendären Living Theatre. Danach traf man sich mit Robert Rauschenberg, Claes Oldenburg oder Dalí in der «Cedar Tavern», um anschliessend in Andy Warhols Factory abzutauchen. «Es war eine Periode unglaublicher Kreativität», schwärmt Brockman. «Ich bin praktisch durch die Strassen geflogen.»

Die Welt des Geldes, sagt Brockman, habe ihn nie wirklich interessiert. «Meine Interessen waren immer strikt kultureller Natur.»

Eines Tages, als Brockman Banjo spielend durch den Central Park flog, heftete sich der Avantgarde-Regisseur Jonas Mekas an seine Fersen, um ihn zu filmen – anschliessend offerierte er dem Banjospieler einen attraktiven Job. Brockman sollte ein Festival organisieren. Das «Intermedia»-Spektakel, bei dem Künstler, Komponisten, Tänzer und Avantgarde-Filmer die Grenzen der Genres sprengten, wurde zum Mega-Hit. «A kind of lifetime event», wie Brockman noch manche kreieren sollte.

«Die Kunstszene», erzählt er, «war seinerzeit auf dem Kybernetik-Trip; alle studierten sie damals die Lehre von der mathematischen Theorie der Kommunikation.» Er selbst erhielt eine spezielle Initiation in das Fach, als der Komponist John Cage ihm bei einem seiner sagenumwobenen «Mushroom-Dinner» ein Buch überreichte, das Brockman gierig verschlang: Norbert Wieners «Kybernetik, Regelung und Nachrichtenübertragung in Lebewesen und Maschine». Cage habe danach nie mehr mit ihm gesprochen. Nach den Gründen für dieses Verhalten gefragt, habe ihm ein gemeinsamer Freund erklärt, Cage sei sein Zen-Meister: «Du brauchst ihn nun nicht mehr.» Das Buch, sagt Brockman, habe heute noch einen speziellen Platz in seiner Wohnzimmer-Bibliothek.

Es waren die Jahre der psychedelischen Gegenkultur, Albert Hofmann und Timothy Leary mittendrin. Er selbst habe Drogen gemieden. Auch Cages Pilzgerichte waren rein kulinarischer und hochgradig intellektueller Natur; stundenlang wurde seinerzeit über Marshall McLuhans Idee vom «kollektiven Bewusstsein» diskutiert. Die Welt des Geldes, sagt Brockman, habe ihn nie wirklich interessiert. «Meine Interessen waren immer strikt kultureller Natur.»

Die goldene Brücke

Die Welt des Geldes und die der Kultur hat Brockman, der selbst aus bescheidenen Verhältnissen stammt, gleichwohl erfolgreich zusammengebracht. In der Nixon-Ära, als die Republikaner die staatliche Unterstützung für die Künste abzuziehen begannen, war Brockman so etwas wie eine goldene Brücke zwischen seinen spendewilligen reichen Kunden und den darbenden Künstlerfreunden. «Ich war wie ein Banker gekleidet, also vertrauten sie mir die Gelder an.» Diese Rolle sowie sein Organisationstalent und die Fähigkeit, die richtigen Leute kennenzulernen, haben ihm den Ruf des «kulturellen Impresarios» eingebracht. Was das heisst? «Ich bin derjenige, der im Saal die Lichter an- und ausmacht.»

Diese Metapher kann man natürlich verschieden lesen, falsche Bescheidenheit jedenfalls ist Brockmans Sache nicht. Porträts von ihm selbst – mit dem Hut schräg im Gesicht sieht er aus wie ein Humphrey Bogart in reiferen Jahren – sind, nebst zwei grossformatigen digitalen Blumen-Bildern seiner Frau Katinka Matson, der einzige Wandschmuck im Büro. Brockman und Matson sind seit Jahrzehnten verheiratet und leiten gemeinsam Brockman, Inc. Ihr Sohn Max ist CEO der Firma. Auf die Eroberung der «Ice-Queen», um die seinerzeit viele seiner Freunde vergeblich buhlten, scheint er noch heute stolz zu sein, und angesichts der einnehmenden Art, wie er von ihrer Amour fou erzählt, kann man sich gut vorstellen, dass Brockman leicht Freunde gewinnt.

Der Impuls, sich immer wieder neu zu erfinden, ist Brockmans Lebensdevise.

Der umworbenen Tochter des damals berühmtesten Literaturagenten in New York verdankte der 23-jährige Brockman auch seinen ersten Buch-Kontrakt. Das Traktat, das er seinerzeit schrieb – «By The Late John Brockman» –, ist ein autobiografisch-kybernetisches Kuriosum, bei dem Marshal McLuhan und Norbert Wiener deutlich Pate standen. Der Text erhielt eher gemischte Reaktionen; die einen bezeichneten das nicht eben leicht lesbare Werk als «genial», die andern als «ein furchteinflössendes Buch ohne Sinn und Verstand». Vielleicht ist es ja auch beides.

Seither ist Brockman in erster Linie als Herausgeber tätig. «Das Wichtigste, was ich geleistet habe, habe ich in meinen Zwanzigern getan»; auch Goethe und Alan Turing seien schliesslich in jungen Jahren schon auf der Höhe ihres Könnens gewesen. Den nicht eben demütigen Vergleich (und Goethes beträchtlichen Ausstoss im hohen Alter) einmal beiseitegelassen: Der Impuls, sich gleichwohl immer wieder neu zu erfinden, ist Brockmans Lebensdevise. Das gilt auch für sein Cyber-Portal Edge.org, das er seit bald dreissig Jahren mit Gusto betreibt. Womit wir bei der «dritten Kultur» angelangt wären.

Ein erlesenes Forum

Geboren aus dem Impuls, die vom Physiker und Romanautor C. P. Snow in den sechziger Jahren konstatierte Kluft zwischen den «zwei Kulturen» der Geistes- und der Naturwissenschaften zu schliessen, ist Edge.org zu einem exquisiten Forum der empirischen Wissenschaften geworden. Hier findet sich die Crème de la Crème der natur- und sozialwissenschaftlichen Forschung. Die Evolutionsbiologen Richard Dawkins und Steven Pinker, der Psychologe Daniel Kahneman, der Neurowissenschafter Eric R. Kandel sind ebenso zu finden wie der Genom-Spezialist Craig Venter, die Ethnologin Helen Fisher oder der Apple-Mitbegründer Steve Wozniak.

Der Verdacht, er nutze die Non-Profit-Internetplattform, um seine eigenen Autoren lukrativ zu vermarkten, dürfte freilich schon aufgrund des eher eingeschränkten Leserkreises nicht greifen; Edge ist eine Website von Wissenschaftern für Wissenschafter und – anders als der «New Yorker», die «New York Review of Books» und die «New York Times Book Review», die Brockman mit einem leichten Schnauben bedenkt – zum Lancieren von Bestsellern kaum geeignet.

Die angebliche Meinungshoheit der drei Publikationen «mit dem grossen N» ist ihm anscheinend ein Dorn im Auge – glaubt er in diesen dreien doch so etwas wie die Verkörperung der geisteswissenschaftlichen Arroganz gegenüber der «harten Wissenschaft» zu erkennen. «Das Wort ‹Intellektuelle› wurde von den Leuten gekapert, die Bücher rezensieren und das intellektuelle Leben mit Literatur gleichsetzen», meint er. Diese auch auf Edge kultivierte – und womöglich auf einer gewissen Gegenseitigkeit beruhende – Aversion gegenüber der «traditionellen intellektuellen Elite» ist freilich nicht unbedingt dazu angetan, den Graben, den die «dritte Kultur» zu überwinden trachtet, zu schliessen.

Je länger man mit Brockman spricht, desto mehr leuchtet die Metapher vom «intellektuellen Enzym» ein.

Dabei haben sich die «beiden Kulturen» der Geisteswissenschaften einerseits und der Naturwissenschaften und Technik andererseits ja längst einander angenähert; man könnte eher meinen, dass die von Brockman anvisierte Vormachtstellung der empirischen Wissenschaften bereits Tatsache ist. Neurologie, Genetik, Evolutionsbiologie und Computertechnologie liefern im öffentlichen Diskurs inzwischen bevorzugt Antworten auf viele weltanschauliche Fragen, derweil die Geisteswissenschaften immer mehr in die Defensive zu geraten drohen. Insofern sind die Grabenkämpfe von einst eigentlich obsolet.

Verwirrung und Widerspruch

In mancher Hinsicht ist Edge denn auch ein Folgeprojekt des sogenannten «Reality Club» aus den achtziger Jahren, in dem Köpfe wie etwa Betty Friedan, der Physiker Freeman Dyson, der Polit-Aktivist Abbie Hoffman und der Schauspieler Dennis Hopper zusammentrafen, um sich – frei nach einer Idee des Performance-Künstlers James Lee Byars – gegenseitig die gesellschaftlich drängendsten Fragen zu präsentieren, die sie sich selber stellten. Byars wollte dazu hundert der brillantesten Wissenschafter in einen Raum sperren. Der Plan scheiterte, weil siebzig der angefragten Experten ihm einen Korb gaben. Da kam der Mann, der bekannt dafür ist, dass er keine Körbe kassiert, gerade recht.

In der Tat: Je länger man mit Brockman spricht, desto mehr leuchtet die Metapher vom «intellektuellen Enzym» ein. Nicht nur verleiht sein Hang zum «wilden Leben» seinen visionären Impulsen und der Abneigung gegen alles Vorgekaute höhere Glaubwürdigkeit. Diese Unabhängigkeit hat auch dazu geführt, dass er Freundschaften mit Leuten wie etwa dem Black-Panther-Anführer Huey P. Newton mit Kontakten zum Weissen Haus, die Verbindung zur Gruppe Velvet Underground mit seinen Beziehungen zum Geldadel und Rupert Murdoch mit seinen Freunden aus der Ivy League problemlos unter einen Hut zu bringen vermochte. «Awkwardness, confusion and contradiction» seien seine «drei besten Freunde» behauptet er. Wenn das denn mehr ist als ein Bonmot, hat er es damit weit gebracht.