Piano, Piano!

Wenn in der Pop-Musik das Klavier ertönt, wird aus Unterhaltung oft plötzlich heiliger Ernst. Mit Piano-Klischees lassen sich nostalgische Gefühle evozieren.

Ueli Bernays
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Der Klang des Pianos erweist sich im Pop als bürgerlicher Fetisch und als Signal der Innerlichkeit. (Bild: pd)

Der Klang des Pianos erweist sich im Pop als bürgerlicher Fetisch und als Signal der Innerlichkeit. (Bild: pd)

Das Schwarz-Weiss-Video zeigt einen Steinway-Flügel und einen Pianisten im Casual-Look. Eine Kappe über den Ohren, eine palästinensische Kufiya um den Hals, lässt er seine langen Finger über die Tasten traben. Und schon perlt über innigen Arpeggi ein sentimentales Motiv. Man wird in idyllische Sphären versetzt, in Landschaften mit Wiesen und Wäldern und trillernden Drosseln, vielleicht. Einige mögen sich bei den gläsernen Piano-Klängen auch an ihre Kinderstube erinnern und an das Klavier in der Ecke, wo sie selber übten oder klimperten – von «Alle» über «Entchen» bis «schwimmen» und «See».

Auch die Musik des besagten Virtuosen, es handelt sich um den Italiener Ezio Bosso, hat eine ornithologische Komponente: Mit dem Stück «Following a Bird» versucht er den Flügelschlag pianistisch nachzuempfinden. Dabei ereifert er sich selber so sehr an der expressiven Tragweite seines poppigen Pastorales – die Augen geschlossen, weit aufgerissen der Mund –, dass man fast etwas zweifeln mag an seiner Passion. Ist die Emotion nicht bloss gekünstelt?

Die Kombination von Pop und Piano hat in den vergangenen Jahrzehnten ein eigenes Crossover-Genre hervorgebracht, das man als Piano-Pop bezeichnen könnte. Erste Blüten verdankte der Stil dem amerikanischen Pianisten und Komponisten George Winston. Inspiriert von New-Age-Phantasien und beflügelt durch die Minimal-Ästhetik eines Phil Glass und Keith Jarretts Gospel-Inbrunst, setzte er sich als Pop-Star in Szene. Seither profilieren sich in seinen Fussstapfen immer wieder neue Pianisten – Ludovico Einaudi, Yann Tiersen, Didier Squiban, Giovanni Allevi, Ezio Bosso.

Es sind Pianisten wie der Singer-Songwriter Rufus Wainwright, die sich ohne Crossover-Allüren lustvoll und nonchalant im Fundus der Klassik bedienen. Und es gibt Musiker wie Hauschka, die den Klavier-Sound elektronisch variieren und verfremden, um Genre-Grenzen aufzubrechen.

Die typischen Crossover-Pianisten jedoch bringen den klassischen Piano-Klang stets als Fetisch in Stellung. Sie stützen sich auf scheinbar zeitlose Anklänge an Neoromantik und Impressionismus. Die Versatzstücke – tränende Melodien, wogende Arpeggi, bohrende Tremolos – werden dann endlos wiederholt und ausgewrungen. Dissonanzen sind selten. Wo sich Eckiges und Kantiges anzeigt, wird es mit dem Pedal weichgezeichnet.

Fake-Klassik

In den achtziger Jahren sprach die Jazz-Kritik von «fake jazz» – gemeint waren damals Bands wie die Lounge Lizards des Saxofonisten John Lurie, die die Klischees des Jazz imitierten, ohne die tieferen Implikationen seiner Verfahren oder seine ästhetische Entwicklung zu berücksichtigen. Entsprechend könnte man im Falle des Piano-Pop, der zeitlose Schönheit suggeriert und dabei mit der Hochkultur flirtet wie ein Schüler mit seiner Lehrerin, von Fake- oder Pseudo-Klassik sprechen.

Aufschlussreicher als solch elitistisches Nasenrümpfen sind jedoch Vergleiche mit dem Readymade und mit der Ästhetik der Pop-Art. Piano-Pop kann man als ihre Umkehrung verstehen. Marcel Duchamp hat – am Beispiel eines Urinoirs – demonstriert, wie aus einem profanen Gegenstand ein Kunstobjekt wird, wenn er im sakralen Rahmen eines Museums ausgestellt wird. Ähnlich hat die Pop-Art später Objekte der Populärkultur im Rahmen der Hochkultur zitiert, um mit Ironie und Hintersinn kunstbeflissene Traditionalisten vor den Kopf zu stossen.

Im Art-Piano-Pop passiert etwas Ähnliches, Reziprokes: Stereotype aus der «ernsten» Klaviermusik werden in den Pop transplantiert, um hier Erhabenheit und Ergriffenheit zu simulieren. Dieser Crossover unterläuft die Grenze von «high» und «low» nicht, er verschmiert sie sozusagen mit Buntstiften. Dazu passen auch Zeichen überhöhter Prätentionen und Expressivität – übertriebene Erregung und körperliche Gestik. Die Pop-Pianisten mögen sich ja tatsächlich aufs Zitieren und Kombinieren verstehen. Sie tun aber gerade so, als handle es sich bei all den gesammelten klanglichen Vignetten um ureigene Ergüsse. Und je simpler die Form, desto theatralischer oft das zur Schau gestellte Engagement.

Klischee und Signal

An sich zählen Zitieren und Rezitieren, Samplen und Rezyklieren natürlich zu den Kernkompetenzen der Pop-Musik. Sie bündelt Emotionen in eingängigen Signalen. Analog zur Proustschen Madeleine evoziert sie bestimmte Empfindungen durch signalartige Klänge. Dabei bewähren sich auch stereotype Piano-Passagen als Gefühls-Trigger – auffallend oft auch wieder in den letzten Jahren.

Der britische Sänger und Pianist Sampha etwa spielt und besingt in seiner Ballade «(No One Knows Me) Like The Piano» ausdrucksstark das Instrument, das ihn nicht nur an seine Kindheit erinnert, sondern auch an seine verstorbene Mutter. Im entsprechenden Video steht das Klavier wie ein monolithischer Fetisch im schummrigen Licht einer Lager- oder Abstellhalle. So wie Samphas Hände über die Klaviatur gleiten und melancholisch-warme Akkorde anschlagen, wird der Raum in eine Echokammer des Gedächtnisses verwandelt, wo des Sängers Gedanken auf den Geist der Mutter treffen.

Vergleichbar ist der sepia-düstere Videoclip mit Adeles «Hello»: Das Piano ist hier lediglich akustisch präsent – wiederum aber in weichen, gravitätischen Klängen, die Erinnerungen an eine verflossene Liebe und erkaltete Gefühle hervorlocken. Für kindliches Urvertrauen und häusliche Sicherheit steht der schwarze Flügel dann in «Fallin'» von Alicia Keys. Der Clip zeigt die Afroamerikanerin abwechslungsweise durch die Strassen Harlems treibend und sesshaft am Piano in bürgerlichem Interieur.

Das sind wenige, aber idealtypische Beispiele für den Fetisch- und Signalcharakter, den das Piano im Pop annehmen kann. Die Wirkung wird dabei durch den Kontrast zu anderen, neueren Sounds verstärkt. Samphas Klavierspiel bildet einen flagranten Gegensatz zu den dichten und düsteren Texturen seines Elektro-Repertoires. Als gereifte Frau setzt sich Adele dank Piano-Begleitung auch klanglich ab von den Jugendjahren und dem synthetischen Party-Pop. Auch Alicia Keys verleiht ihrem Sound am Piano eine quasi bürgerliche Appretur.

Gefühl und Temperenz

Beim Piano-Pop geht es oft also um eine klangliche Reduktion. Die Musik zieht sich förmlich zurück aus der lauten, lärmigen Gegenwart, um sich auf Zeitlosigkeit und eine Art Klassik zu kaprizieren. Anspruchsvollere Pianisten mögen den Kopf schütteln ob den Grosserfolgen, die mit gefälligem Piano-Pop erzielt werden. Aber man sollte den therapeutischen Effekt nicht unterschätzen. Diese Pseudo-Klassik ist tatsächlich poppig, sie manifestiert sich in niederschwelligen Formen. Alle dürfen es sich hier gemütlich machen im pianistischen Biedermeier. Und niemand wird je zu alt sein für diese Musik, in der Gefühle sich ausbreiten, ohne den Rahmen bürgerlicher Temperenz zu sprengen.