Wirkungsvolles Wirken

Der Mailänder Architekt Luigi Caccia Dominioni bewegte nach dem Zweiten Weltkrieg Mailand und feiert heute in Zürich Triumphe. Ein Blick auf ein faszinierendes baukünstlerisches Werk.

Astrid Staufer
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Zur Ikone geworden – der 1961 von Luigi Caccia Dominioni realisierte Stadtpalast an der Piazza Carbonari. (Bild: Giorgio Casali)

Zur Ikone geworden – der 1961 von Luigi Caccia Dominioni realisierte Stadtpalast an der Piazza Carbonari. (Bild: Giorgio Casali)

Noch im Alter von hundert Jahren empfing Luigi Caccia Dominioni seine Gäste skizzierend in seinem Mailänder Studio. Wer Glück hatte, wurde in das darüberliegende Familien-Apartment geführt, wo er jedoch nur spärlich Auskunft erhielt. Das Wort war nicht das Ausdrucksmittel dieses Architekten. Er war ein Meister des Bildes, ein Kämpfer für Bellezza und Eleganza. Im Gespräch wanderte sein Blick aus dem weichen Ohrensessel durch die raumhohen Fenster über die als Familienmonogramme geschmiedeten Geländer auf die Basilika von Sant'Ambrogio. Sein aus der Nachkriegsmoderne stammender Stadtpalast, vor dessen Pforten zwei bronzene Molosserhunde wachen, war der Wirkungskosmos dieser ungewöhnlichen Figur, deren Experimente erst nach einem jahrzehntelangen Aussenseiterdasein und – so darf man wohl sagen – nach Umwegen über die Schweiz die gebührende Würdigung erfahren haben. Kurz vor seinem 103. Geburtstag ist Luigi Caccia Dominioni Ende vergangenen Jahres verstorben; er vermacht uns ein reiches Werk, das in Italien und in der Schweiz ebenso unterschiedliche wie bewegende Spuren hinterlassen hat.

Gerade in Zürich, wo seine stärksten Bauten aus den 1950er und 1960er Jahren als Referenzen auch an der ETH fast zum Standardrepertoire gehören, zieht das schillernde Œuvre von «Caccia» die Architektenschaft zunehmend in den Bann. Nicht nur in den vielbeachteten Ausstellungen und Katalogen zum Projekt Italomodern, in dem sich die Gebrüder Feiersinger der Bauten der norditalienischen Nachkriegsmoderne in Wort und Bild annehmen, hat sein Beitrag einen massgeblichen Platz erobert. Im Zusammenhang mit der Publikation eines Sonderheftes von «Werk, Bauen + Wohnen» (Nr. 12-2013) zu seinem 100. Geburtstag war gar von der «Dominioni-Manie der jüngeren Schweizer Architekten» die Rede.

Mailand in Zürich

Seit einigen Jahren zeugen diverse Zürcher Bauten vom Interesse an der Mailänder Nachkriegsmoderne und speziell an Caccia: Das Hohe Haus am Werdplatz von Loeliger Strub zelebriert aussen mailändische Eleganz und schmückt sich innen mit seinen Türgriffen (noch heute im Sortiment von Azucena); die Wohnüberbauung Steinwies-/Irisstrasse von Edelaar Mosayebi Inderbitzin legt ihre Schmetterlingsform in den bestehenden Park und kleidet sich – wie viele von Caccias Bauten – in ein Gewand aus fein ziselierter Keramik; das Wohnhaus Neumarkt 5 von Kilga Popp in Winterthur zitiert mit der ovalen Erschliessungshalle den Umbau des Wohnhauses an der Mailänder Via Gesù zur Stadtvilla, deren Mitte eine Sequenz von solchen Räumen prägt; das Projekt von Esch Sintzel für die Zürcher Zollstrasse ordnet sich zwar englischen Referenzen zu, inszeniert im Grundriss aber Caccias «Flusso» von einer ruhigen, strassenbegleitenden Front zu einer frei bewegten auf der Bahnseite; und das Projekt von Knapkiewicz & Fickert an der Hornbachstrasse im Zürcher Seefeld lässt – angeregt von gebauchten Wohnräumen wie beim Haus an der Via Vigoni in Mailand – seine Fassaden wie Flügelschläge schwingen.

Das Mehrfamilienhaus von Edelaar Mosayebi Inderbitzin an der Irisstrasse in Zürich legt seine Schmetterlingsform in den bestehenden Park und kleidet sich – wie viele von Luigi Caccia Dominionis Bauten – in ein Gewand aus fein ziselierter Keramik. (Bild: Roman Hollenstein)

Das Mehrfamilienhaus von Edelaar Mosayebi Inderbitzin an der Irisstrasse in Zürich legt seine Schmetterlingsform in den bestehenden Park und kleidet sich – wie viele von Luigi Caccia Dominionis Bauten – in ein Gewand aus fein ziselierter Keramik. (Bild: Roman Hollenstein)

Es ist kein Zufall, dass die meisten dieser Architekten als Kuratorinnen, Autoren oder Protagonisten in das erwähnte Sonderheft von «Werk, Bauen + Wohnen» involviert waren. Ihren Bauten ist über die Mailänder Referenzen hinaus gemein, dass sie sich mit dem beschäftigen, was für Caccia den Hauptaspekt des Wohnentwurfs ausmachte: das «Erzählen einer Geschichte», die erst die wahrnehmende Bewegung durch den Grundriss räumlich erfahrbar macht. Zur Ambition des «piantista» – des Grundrissspezialisten – gesellt sich aber bei allen Beispielen auch das augenzwinkernde Zusammenführen von auf den ersten Blick unvereinbaren Widersprüchen. Innen und Aussen bedingen sich nicht im modernistischen Sinne als ganzheitlich durchdrungenes Objekt, sondern lassen sich in barocker Weise als komplementäres Verhältnis begreifen: Die äussere Wahrnehmung schreibt sich dem lokalen Kontext ein, während sich das Innenleben – fast unabhängig davon – in den Dienst der wohnlichen Behaglichkeit stellt.

Intellektuelle Skepsis

Zurück aber nach Mailand an die Piazza Sant'Ambrogio, wo die Familie Caccia Dominioni seit dem 15. Jahrhundert ansässig ist. 1939 in den Kriegsdienst einberufen, war «Gigi» 1943 in die Schweiz geflohen, wo er bis 1945 in einem italienischen Interniertenlager in Mürren Zuflucht fand. Nach seiner Heimkehr baute er den im Krieg zerstörten Familiensitz wieder auf und eröffnete im Erdgeschoss das Studio, wo fortan unter seiner flinken Hand Hunderte von Projekten entstanden – vorab in Mailand, aber auch im Veltlin und in den Feriengegenden seines Mailänder Bekanntenkreises.

Caccias Werk umfasst Möbel und Designobjekte (Radio Phonola) genauso wie Stadtplanung (etwa Milano San Felice von 1970). Es spannt den Bogen von unzähligen Wohnbauten über Bürokomplexe, Kultur- und Sakralbauten bis hin zum Ferienhaus-Ausbau im Engadin. Jeder Aufgabe kommen in dieser breiten Palette ihr Thema und ein massgeschneiderter Ausdruck zu. Stets pflegte Caccia zu seinen Auftraggebern und Projekten einen «rapporto di fiducia», ein Vertrauensverhältnis, oder mehr noch: Vertraulichkeit. Seine Gestaltung war eine rundum empathische. Er entwarf seine Stadtplanungen, Bauten und Objekte aus dem Innern heraus, ohne Objektivität und Distanz. Seine Bauherren verehrten ihn als stilvollen Meisterarchitekten, innovativen Tüftler in Notlagen und als persönlichen Freund.

Das Hohe Haus am Zürcher Werdplatz von Loeliger Strub am Zürcher Werdplatz zelebriert in Form und Fensterbild die Eleganz von Luigi Caccia Dominionis Mailänder Stadtpalästen. (Bild: Roman Hollenstein)

Das Hohe Haus am Zürcher Werdplatz von Loeliger Strub am Zürcher Werdplatz zelebriert in Form und Fensterbild die Eleganz von Luigi Caccia Dominionis Mailänder Stadtpalästen. (Bild: Roman Hollenstein)

Was aus heutiger Sicht als Leichtigkeit erscheinen mag, mit der Luigi Caccia Dominioni in der Nachkriegsmoderne unvoreingenommen Spielräume auslotete, stiess bei den intellektuellen Kollegen auf Skepsis und auf Kritik. Nachdem der durch klassische Vorbilder genährte «razionalismo» der faschistischen Ära in die Sackgasse geführt hatte, war die Architektenschaft jener Zeit auf der kollektiven und intellektuell untermauerten Suche nach einer modernen Sprache, die dem Verhältnis von Geschichte und Modernität eine neue Balance verschaffen sollte. Mit seinen waghalsigen Verstössen gegen den «modernen Anstand», mit bronzenen Hunden und schmiedeisernen Geländern, stiess Caccia bei den zeitgenössischen Kommentatoren ebenso auf Unverständnis wie mit seiner heterogenen Werkpalette und der konsequenten Verweigerung, sich auf einen «Stil» festzulegen.

Zwar publizierten italienische Fachzeitschriften («Spazio», «Stile», «Abitare», «Casabella», «Domus») in den 1950er und 1960er Jahren viele seiner ausdrucksstarken Interieurs und Bauten, wortführende Kritiker wie der Architekturtheoretiker Manfredo Tafuri tadelten aber seine ideologische Unzuverlässigkeit und verschmähten ihn als «Professionalisten», ja als «Chamäleon». In fast ketzerischer Manier verschloss Caccia sich jeglicher Kategorisierung und argumentierte stets mit der «questione di gusto»: Alles sei eine Frage des Geschmacks.

Gerade diese Distanz zu den intellektuell Tonangebenden, die er auch seinem Architekturprofessor am Politecnico di Milano, dem Eklektizisten Piero Portaluppi, verdankte (aus dessen Schule interessanterweise Filmregisseure wie Commencini oder Lattuada hervorgegangen sind), ermöglichte ihm riskante Wirkungsexperimente: Wie ein Regisseur verschränkte er scheinbar Unvereinbares unterschiedlichster Provenienz in perspektivisch gelenkten Szenarien. Hinter der spiegelglatten und streng modularen Curtain-Wall-Fassade am Corso Europa (1959), einem Symbol des American Dream der Wirtschaftswunderzeit, verbirgt sich ein orkanartiger Grundriss mit gewundenen Erschliessungen und Oberlichtkratern. Der Condominio an der Piazza Carbonari (1961) – inzwischen zur Ikone geworden – projiziert das wilde Bild des Stockwerkeigentums als Symbol für die gestapelten «Einfamilienhäuser» auf seine scharf geschnittenen Fassaden.

Neuauslotung in der Schweiz

Ab den 1970er Jahren fiel Caccias Werk in einen publizistischen Dornröschenschlaf. Erst in den 1980ern warf in der Schweiz die Wiederentdeckung des Genius Loci ein neues Licht auf sein damals hierzulande noch unbekanntes Werk. Es zeigte sich, dass sein unkonventionelles Schaffen sehr früh vorwegnahm, was wir heute als selbstverständlich erachten: Jede Aufgabe erhält ihre aus dem Ort und der Gattung geschöpfte Sprache, die Geschichte und Nutzung in ihrem Ausdruck verdichtet.

Antimodernes Verhältnis von Grundriss und Hülle: Erläuterungsskizze von Luigi Caccia Dominioni zur "Erzählung einer Geschichte im Grundriss", Mailand 1988.

Antimodernes Verhältnis von Grundriss und Hülle: Erläuterungsskizze von Luigi Caccia Dominioni zur "Erzählung einer Geschichte im Grundriss", Mailand 1988.

Initiator der hiesigen Caccia-Forschung war Bruno Reichlin, Tessiner Architekt, Architekturtheoretiker und ehemaliger Assistent am Lehrstuhl von Aldo Rossi an der ETH. 1988 reichte er eine in «Ottagono» publizierte Werkschau Caccias an Marcel Meili und Markus Peter weiter. Als Assistenten am Lehrstuhl Campi injizierten und begleiteten diese zu jener Zeit studentische Forschungsarbeiten, u. a. über italienische Protagonisten der Nachkriegszeit. Mit den Grabungen im verborgenen Fundus des Spätmodernismus der 1950er Jahre eroberte sich die Nach-Rossi-Generation (unter ihnen Herzog & de Meuron, Meili Peter, Miroslav Šik, Bosshard Luchsinger, Burkhalter Sumi) in den 1980er Jahren neue Felder: Dieser Fundus bot ein optimales Forschungsfeld für die Ortung von hinter der formalen Vielfalt verborgenen methodischen Regeln zur Inszenierung von Wirkung. So zeigte die Analyse von Caccias Werk exemplarisch auf, wie dieser sich durch die eigensinnige Verschränkung von Bildern und Themen Freiheiten im architektonischen Ausdruck erobert, etwa im antifunktionalistischen Verhältnis von Grundriss und Hülle oder in der dialektischen Beziehung von «moderno e antico».

Mit solchen Befreiungsschlägen – seinen subjektiven Verstössen gegen die tradierte Logik eines modernen Entwurfsverständnisses und mit der Neuauslotung von Wirkungszusammenhängen – hat Caccia bereits in den 1950er und 1960er Jahren eine «post-postmoderne» Tendenz vorweggenommen, die für viele Protagonisten der neuen Schweizer Architektur später ebenso wegweisend war wie die Verweigerung gegenüber stilistischen Festschreibungen. Im analogen Denken von Rossi, so schreibt Heinrich Helfenstein in einem Rückblick auf jene Zeit, sei das Feld des architektonischen Entwerfens offener geworden: «Gegenstände verschiedener Herkunft und unterschiedlichen Massstabs (. . .) ziehen sich gegenseitig an, überlagern und vermischen sich.» 1987 zitiert Martin Steinmann in der Werkausgabe mit dem Titel «Die andere Ordnung» die damals jungen Architekten Herzog & de Meuron: Es sei heute nicht mehr möglich, so deklarierten auch sie, Dinge herzustellen, die eindeutig seien. Dies eröffnet gemäss Steinmann die Chance, «die Bindung von Formen und Bedeutungen, die der Wahrnehmung zugrunde liegt, aufzuheben, wenigstens auf Zeit, bevor sich eine neue Bindung etabliert».

Dubai in Mailand

Während die Beiträge der «Rossiana» von Rossis Schülern in der Schweiz als methodische Ausgangslage verstanden wurden und so die Entwicklung einer eigenen Identität nähren konnten, scheint sich die italienische Architekturkultur in den letzten Jahrzehnten an der Deklination von rein formalen Komponenten zu Tode gerieben und ihre Identität vergessen zu haben. Ein ähnliches Problem stellt sich uns heute wieder: Auch in der Schweiz verführt die sich im digitalen Netz beschleunigende Bilderflut zunehmend zu einer unreflektierten und dadurch blinden Adaption von Bildern. Die Tatsache führt schliesslich zu folgender paradoxen Situation: Während die «Dominioni-Manie» bzw. die hierzulande grassierende Bildersehnsucht zur Nachverdichtung und Urbanisierung unserer «Kleinstädte» mehr und mehr Bilder der Metropole Mailand ausgräbt, werden dort infolge von Ignoranz und von vollkommen falsch verstandener Modernität nicht nur Caccias Bauten zerstört (wie jüngst das Haus an der Via Restelli oder der Komplex für Loro Parsini), sondern auch grosse Teile der Innenstadt von einem gläsernen, ebenso anonymen wie hilflosen International Style heimgesucht, der sich parasitär ausbreitet.

In Zürich baut man nun offenbar Mailand und in Mailand Dubai. Man wünschte sich – hüben wie drüben – wieder neue und erfrischende Methoden im Umgang mit den sich vervielfältigenden Bildern, und ja: vielleicht wieder einmal eine richtige Debatte über das, was Identität heute wirklich bedeuten könnte. Um der Beliebigkeit von zu schnellen Bildern zu entkommen, braucht es die Architekturforschung und die methodische Reflexion von entwerfenden Architekten. Zur Frage der Identität hat Caccia einen eigenständigen Beitrag geleistet, indem er jenseits von Moden, Sprachen und Stilen für jeden seiner Bauten ein starkes Wahrnehmungsfundament errichtet hat, auf dem sich kontextuelle, kultur- und gesellschaftsspezifische Bilder zu identitätsstiftender Wirkung verklammern. Just das, was ihm damals von den Kritikern als chamäleonhafte Unzuverlässigkeit vorgeworfen worden war, könnte uns heute den Weg in eine Zukunft weisen, die der fortschreitenden Vereinheitlichung und Globalisierung den Rücken kehrt.

Astrid Staufer führt zusammen mit Thomas Hasler das Büro Staufer & Hasler Architekten in Frauenfeld / Zürich, lehrt Hochbau und Entwerfen an der TU Wien und an der ZHAW in Zürich. Sie forscht und publiziert seit ihrem Studium zum Werk von Luigi Caccia Dominioni.