Sollten alle Grenzzäune fallen? Selbst wenn das wünschenswert wäre, hätte die Utopie der «open borders» einen Haken.
Auswandern soll überall und jederzeit jede und jeder dürfen – aber einen Anspruch auf Einwanderung gibt es nirgends. Emigration ist fast global als Menschenrecht anerkannt, aber Immigration wird von den einzelnen Staaten nach eigenem Gutdünken gewährt oder verweigert. Das ist vielleicht kein Widerspruch, aber doch gewiss ein Spannungsverhältnis. In Zeiten grosser Nachfrage nach Immigration nehmen sich auch Philosophinnen und Philosophen des Themas an. Mit welchem Recht, so ihre Frage, weisen Staaten Immigrationswillige ab?
Man tut gut daran, ob der Prinzipien nicht die Fakten aus dem Auge zu verlieren. Es sind nicht weniger als 16 Prozent der erwachsenen Weltbevölkerung, die gerne dauerhaft in ein anderes Land übersiedeln wollen. Das ergab eine globale Gallup-Umfrage im Jahr 2009, und seitdem dürften die Migrationswünsche nicht abgenommen haben.
Jüngere Zahlen gibt es zu einzelnen Weltregionen – im westafrikanischen Staat Liberia etwa äussern mehr als ein Drittel der Bevölkerung den Wunsch, in die Vereinigten Staaten zu emigrieren. Die USA sind global die Top-Wunschdestination; hochgerechnet würden insgesamt etwa 165 Millionen Menschen dorthin übersiedeln. Danach auf der Rangliste kommen Kanada, Grossbritannien und Frankreich (je 45 Millionen), Spanien (35 Millionen), Saudiarabien (30 Millionen) und Deutschland (25 Millionen).
Die internationalen Organisationen zeichnen in ihren Berichten zur Lage ein eher migrationsfreundliches Bild. Der Uno-Bericht über internationale Migrationspolitik von 2013 stellt eine zunehmende Offenheit der Regierungen für Immigration fest, und die Internationale Organisation für Migration in Genf betont in ihrem Bericht von 2015, dass mit Ausnahme Europas überall auf der Welt die Bevölkerungen die Rate derer, die in ihr Land einwandern, lieber beibehalten oder erhöhen möchten, als sie zu senken.
Aus dieser Interpretation der Befunde spricht indes eher der notorische Migrationsoptimismus internationaler Organisationen als die zugrunde liegende Datenlage selbst. Gemäss Uno ist die gegenwärtige Zahl internationaler Migrantinnen und Migranten im Vergleich zum Migrationswunsch sehr tief (2015: 3,3 Prozent der Weltbevölkerung).
Daher scheint es adäquater, die Befunde so zusammenzufassen: Überall auf der Welt (mit Ausnahme Ozeaniens) wünscht sich die grosse Mehrheit der Bevölkerung eine Senkung oder Beibehaltung der gegenwärtigen Immigrationsrate. Zumal in den Wunschdestinationsländern war schon vor Trump von einer allgemeinen Öffnung nichts zu spüren; diese Länder haben schon seit langem eine restriktive Immigrationspolitik.
Das Recht zu einer solchen Politik wird oft für eine Selbstverständlichkeit gehalten, und es ist als Bestandteil staatlicher Souveränität akzeptiert. Ausserhalb des Asylrechts ist legale Immigration in einen Staat ein Privileg, auf das niemand einen Anspruch hat und das von jedem Staat nach eigenem Gutdünken verliehen wird. In der philosophischen Diskussion hat demgegenüber die Argumentation für globale Freizügigkeit, ja sogar für ein Menschenrecht auf Immigration starken Auftrieb. Das mag als typisch «weltfremd» empfunden werden – aber Philosophie muss weltfremd genug sein, um Selbstverständlichkeiten hinterfragen zu können.
Das radikalste Argument für globale Freizügigkeit setzt beim anerkannten Recht auf Emigration an und leitet daraus ein Recht auf Immigration ab. «Jedermann steht es frei, jedes Land, einschliesslich seines eigenen, zu verlassen» – das Prinzip ist als Menschenrecht fast global anerkannt und auch sehr gut begründet: Es verhindert, dass Regierungen ihre Bevölkerung gleichsam in Haft nehmen können.
Natürlich kann man – wie an allen Grundsätzen – auch hieran mitunter mit gutem Grund zweifeln: Man denke an die Situation von afrikanischen Ländern mit niedriger Lebenserwartung ihrer Bewohner, die zwar medizinisches Personal ausbilden, dieses aber durch Emigration gleich an Industrieländer verlieren (was tatsächlich geschieht). Ausserhalb dieses Kontextes von «brain drain» scheint das Recht auf Emigration aber so gut begründet, wie es ein menschenrechtlicher Grundsatz nur sein kann.
Emigrieren kann man jedoch eben nur dann, wenn man auch immigrieren kann. Daraus ein Menschenrecht auf Immigration abzuleiten, wie das Phillip Cole getan hat, ist zwar etwas gar weit gegriffen. David Miller hat dieses Argument mit einem Vergleich ad absurdum geführt: Mein Recht auf Eheschliessung verpflichtet dich nicht, mich zu heiraten.
Da aber das Recht auf Emigration erstens gut begründet ist und zweitens nur insofern irgendeinen praktischen Wert hat, als es auch reale Immigrationsoptionen gibt, darf meines Erachtens doch Folgendes geschlossen werden: Es ist das Recht auf Einwanderungsbeschränkung, welches begründungsbedürftig ist, und nicht der Einwanderungsanspruch der Migrationswilligen.
Das – begründete – Recht auf Emigration dreht damit die Beweislast um und gibt einen Grund, die Selbstverständlichkeit zu hinterfragen, mit der Staaten ein Recht auf Immigrationsbeschränkung geltend machen. Für eine solche Beschränkung sprechen eher pragmatische Argumente (etwa die «Überforderung des Sozialstaats»), aber auch eher prinzipielle Argumente – und aus philosophischer Sicht sind es die letzteren, die besonders interessieren.
Ein erstes Argument lautet, intuitiv formuliert: «Unser Land gehört uns!» Es gibt, so die These, ein kollektives Eigentum am Staat; so, wie ein Privateigentümer eines Hauses das Recht hat, Einzugswillige abzuweisen, hat ein Staat das Recht, Immigrantinnen nicht auf sein Territorium zu lassen. Dieses Argument geht aber – sozusagen – leicht nach hinten los.
Die Weise, wie ein Staat «Eigentum» an seinem Territorium hat, ist meistens fundamental von dem verschieden, was Privateigentum ausmacht. «Öffentlicher Grund» ist gerade nicht privat, sondern eben öffentlich: Eigentum an öffentlichem Grund bedeutet keine «privatio» (kein Ausschluss), sondern gerade eine Öffnung bzw. Offenhaltung: die Sicherung allgemeiner Zugänglichkeit.
Zudem ist der Staat bezüglich des Grossteils seines Territoriums nicht Eigentümer, sondern vielmehr Garant des Privateigentums. Wenn der Staat aber Immigrationswillige abweist, obwohl einer seiner Bürger ihnen Unterkunft anbieten will, beschränkt der Staat das Eigentumsrecht dieses Bürgers, anstatt es zu garantieren. Er «enteignet» ihn in gewisser Weise, indem er den Marktzugang beschränkt.
Von libertärer Seite wird deshalb mitunter dafür argumentiert, dass der Staat keine Immigrationsbeschränkungen auferlegen dürfe. Gegenüber der behaupteten Analogie von staatlicher Souveränität und Privateigentum scheint der umgekehrte Schluss plausibler: Das garantierte Eigentumsrecht ist eher ein Argument gegen ein staatliches Recht auf Einwanderungsbeschränkung.
Ein zweites Argument lautet, wiederum intuitiv formuliert: «Wer zu uns gehört und wer nicht, entscheiden wir selbst!» Als Grundlage dient hier das Menschenrecht auf Vereinsfreiheit. Mit dem Recht, sich zusammenzuschliessen, geht auch das Recht auf Nichtzulassung einher. Philosophen wie Stuart White argumentieren, dass es erst die Möglichkeit der Ausübung des Rechts auf Nichtzulassung ist, die unsere Vereine wirklich zu den unsrigen macht. Im soziologischen Jargon: keine Inklusion ohne Exklusion.
Dagegen ist (mit Sarah Fine) einzuwenden, dass die Vereinsfreiheit der Herausbildung der Zivilgesellschaft innerhalb eines Staates dient, der Staat selbst aber kein Verein ist – nur schon deshalb nicht, weil man in den Staat hineingeboren wird. Vereine dienen dazu, in der Gesellschaft besondere Sichtweisen zu artikulieren, spezielle Anliegen zu befördern und eigenständige Initiativen zu verfolgen.
Die Vereinsfreiheit ermöglicht dadurch gesellschaftliche Vielfalt. Der (liberale) Staat selbst soll aber gerade keiner besonderen Sichtweise verpflichtet sein, er soll sich keine Sonderanliegen und Spezialprojekte zu eigen machen. Der Staat ist die politische Form der Gesellschaft, keine Sondergruppe innerhalb der Gesellschaft.
Ein bescheideneres, aber vielleicht intuitiv aussichtsreicheres drittes Argument lautet: «Die Leute wollen es eben so!» Es beruht auf dem Selbstbestimmungsrecht der Völker. Das Recht auf Selbstbestimmung umfasst kollektive Autonomie und befördert eine Tendenz in Richtung Demokratie. Demokratische Staaten sind dem Volkswillen verpflichtet. Die Bevölkerung der meisten Staaten ist, wie die erwähnte Umfrage nahelegt, eher immigrationsskeptisch. Wie auch immer man die Gründe für diese Skepsis beurteilen mag (über die im OECD-Bericht «International Migration in a Shifting World» einiges zu erfahren ist): Eine solche Haltung legitimiert prima vista eine restriktive Immigrationspolitik (im Rahmen völkerrechtlicher Regelungen, deren argumentative Begründung ein anderes Thema ist).
So schlüssig dieses Argument auch erscheinen mag, es zielt doch am Anliegen der Befürworter der «open borders» in der gegenwärtigen philosophischen Diskussion vorbei. Diese bestreiten nämlich in der Regel nicht das Recht auf demokratische Selbstbestimmung in Belangen der Immigrationspolitik, sondern akzeptieren dieses explizit. Ihr Punkt ist nicht, dass Demokratien keine Immigrationsbeschränkungen auferlegen dürfen, sondern vielmehr, dass es gute Gründe für die Bevölkerungen gibt, demokratisch den Weg in Richtung globaler Freizügigkeit einzuschlagen.
So behauptet Joseph Carens zwar mitunter ein «Menschenrecht auf Immigration», bei dessen Geltung Immigrationsbeschränkungen, von Ausnahmefällen abgesehen, illegitim wären. Er argumentiert auf der Hauptlinie aber nicht gegen eine demokratisch legitimierte Immigrationspolitik, sondern dafür, dass diese Politik eine Politik der offenen Grenzen sein sollte.
Seine Argumente sind erstens, dass die Privilegien bestimmter Nationalitäten eine Ungerechtigkeit darstellen, die durch globale Freizügigkeit ausgeglichen werden könnte; und zweitens, dass globale Freizügigkeit eine Zunahme individueller Freiheit bedeuten würde. Und wer wollte bestreiten, dass ein solches Mehr an individueller Freiheit, rein für sich betrachtet, ein Gut ist?
Das mag utopisch erscheinen, und Carens liegt es fern, eine sofortige Politik unbeschränkter Immigration zu empfehlen. Man weiss um den Unterschied zwischen «idealer» Theorie und «realer» Welt. Bei aller Stärke der Argumentation liegt aber schon in der Utopie selbst ein Haken, ganz abgesehen von aller Realpolitik. Je konkreter wir uns nämlich dieses Ideal globaler Freizügigkeit ausmalen, desto stärker nähern wir uns Bedingungen an, unter denen das Recht auf Emigration wertlos wird.
Wem es in diesem Weltstaat dann aber nicht gefällt, der kann nicht mehr auswandern.
Vertreter der «open borders» illustrieren ihre Sicht regelmässig anhand des Prinzips der Freizügigkeit innerhalb von föderalen Staaten (etwa der interkantonalen Niederlassungsfreiheit in der Schweiz). Das ist kein Zufall. Die Erfahrungen mit internationaler Freizügigkeit, für welche die EU ein einzigartiges Grossexperiment darstellt, plausibilisieren die These, dass internationale Freizügigkeit mit grossem Druck in Richtung politischer Integration auf fiskalischer, rechtlicher, ökonomischer Ebene einhergeht. Von hier aus weitergedacht, legt die Utopie globaler Freizügigkeit einen globalen föderalen Weltstaat nahe.
Wem es in diesem Weltstaat dann aber nicht gefällt, der kann nicht mehr auswandern, denn der Weltstaat ist überall. Das Recht auf Emigration würde damit für all jene, die sich die dannzumal vielleicht mögliche Ansiedlung auf einem anderen Planeten nicht leisten können, völlig wertlos.
Hans Bernhard Schmid lehrt politische Philosophie und Sozialphilosophie an der Universität Wien. 2011 ist bei Suhrkamp sein Buch «Moralische Integrität. Kritik eines Konstrukts» erschienen.