Star Wars im Venusberg

Richard Wagners «Tannhäuser» ertrinkt in der neuen Münchner Lesart von Romeo Castellucci und Kirill Petrenko im Ungefähren. Und beim Sängerkrieg gewinnt nicht der Titelheld.

Marco Frei, München
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Akupunktur für Minnesänger? Klaus Florian Vogt (Tannhäuser) und das Ensemble der Bayerischen Staatsoper. (Bild: Wilfried Hösl / Bayerische Staatsoper)

Akupunktur für Minnesänger? Klaus Florian Vogt (Tannhäuser) und das Ensemble der Bayerischen Staatsoper. (Bild: Wilfried Hösl / Bayerische Staatsoper)

Der Countdown läuft. «Hier vergeht eine Sekunde», leuchtet zu Beginn des dritten und letzten Aufzugs in grossen Lettern auf. Am Ende werden es unzählige Milliarden Jahre sein, die laut Leuchtschrift vergangen sind. Dazu wird man Zeuge, wie auf der Bühne zwei Körper allmählich zu Staub zerfallen: Tannhäuser und Elisabeth. Aus dem Zahlenspiel wird eine «Verwesungsshow», in der sich die Körper zunächst aufblähen und bald zusammenfallen. Sie ruhen auf dunklen Quadern, im Zentrum der Szenerie. Es sind zwei Grabmäler, auf ihnen prangen die Namen «Klaus» und «Anja».

So lässt Romeo Castellucci seine Neuinszenierung von Richard Wagners «Tannhäuser» an der Bayerischen Staatsoper enden. Hinter «Klaus» und «Anja» verbergen sich freilich Klaus Florian Vogt, der an diesem Abend sein Rollendebüt als Tannhäuser gab, sowie Anja Harteros als Elisabeth.

Bizarre Körperwelten

Damit offenbart sich vollends, was sich Castellucci in München vorgenommen hat. Er möchte den Stoff ironisch aufbrechen, gar überspitzen, zumal ihm als Italiener eine gewisse Wagner-Distanz gleichsam vererbt wurde. Nun ist Wagner kein Heiliger, und längst dürfen seine Opern entweiht und nach Strich und Faden umgedeutet werden. Allerdings bedarf es dazu einer markanten, konzisen Idee.

In München belässt es Castellucci bei Assoziationen, die er in den Raum wirft, ohne sie konsequent durchzuführen. Das gilt auch für die zahllosen Symbole und Kunst-Zitate, die durch das Geschehen huschen. Als eine Art Leitmotiv fungieren Pfeil und Bogen: Schon während der Ouvertüre tänzeln Schützinnen über die Bühne, um mit nackten Brüsten die Bögen zu spannen. Die Pfeile durchbohren ein rundes Bild, auf das der Videodesigner Marco Giusti ein Auge und ein Ohr projiziert.

Für Castellucci, der zugleich die Bühne und die Kostüme entworfen hat, ist dies eine Anspielung auf das Fresko «Das Martyrium und die Überführung der Leiche des enthaupteten Christophorus» von Andrea Mantegna in der Eremitani-Kirche zu Padua. Der Tyrann Danno ist hier im Hintergrund zu sehen, mit einem Auge, das von einem Pfeil durchbohrt ist. Später lässt Castellucci eine Schützin sogar auf einem echten Pferd sitzen, das an der Premiere prompt etwas nervös hin und her trabt.

Im zweiten Akt bohrt Elisabeth einen Pfeil in den Rücken Tannhäusers. Ist es der Pfeil Amors, der den Sänger niederstreckt? Die Frage erübrigt sich, weil der Ritt Castelluccis durch die Kunst- und Kulturgeschichte bedeutungslos bleibt. Das alles sollte man spielerisch betrachten, und das gilt nicht zuletzt für die korpulente Venus. Im ersten Akt hockt sie als fleischige Masse an der Rampe, eine undefinierbare Mischung aus Dickdarm und «Jabba der Hutte» aus dem «Star Wars»-Universum. Aus diesem Geschöpf kriecht der Minnesänger Tannhäuser hervor, um bald den Venusberg in Richtung Wartburg zu verlassen.

Die Venus von Castellucci ist fraglos wenig sinnlich. Wer bis dahin nicht verstanden hat, warum der fesche, kecke Tannhäuser ihrer Reize überdrüssig geworden ist, findet in diesem Bild gewiss eine Antwort. Mit ihrem schweren, vibratosatten Timbre schenkt Elena Pankratova dieser Kreatur eine geeignete Stimme, aus dramaturgischer Sicht jedenfalls.

Parlando und Belcanto

Einen akustischen Kontrast hierzu bildet Vogts stechend heller Tenor: Ähnlich wie als Lohengrin, eine seiner Paraderollen, strebt Vogt auch als Tannhäuser nach einer Entschlackung des Gesangs: eine Art deutscher Belcanto. Damit kann sich Vogt grundsätzlich auf Wagners originäre Ideen zur Vokalstilistik stützen, allerdings ist die Lohengrin-Partie insgesamt lyrischer gesetzt als jene des stellenweise heldische Tenortöne fordernden Tannhäuser.

Aus dem Sängerkrieg im zweiten Akt geht an der Premiere vor allem einer als Sieger hervor: Christian Gerhaher als Wolfram von Eschenbach. Es ist dies eine der wenigen, mit grösstem Bedacht ausgewählten Opernrollen des genuinen Liedsängers Gerhaher; er hat sie seit dem Debüt in Frankfurt 2007 inzwischen recht häufig gesungen. Wie der deutsche Bariton nun auch in München den Text seziert, um eine parlandoartige, affektreiche, hochkultivierte Tonrede zu erschaffen, das ist und bleibt, wie stets, ein Hör-Ereignis.

Jedes einzelne Wort wird hier zum Klang, und Kirill Petrenko am Pult des Bayerischen Staatsorchesters greift dies kongenial auf. In Wolframs Preislied «Blick' ich umher in diesem edlen Kreise» entwerfen er und Gerhaher eine kammermusikalische Dichte von grösster Intensität, ausgesprochen vielfarben und glasklar durchhörbar.

Auch mit der Elisabeth von Anja Harteros fühlt sich Petrenko hörbar einig, wovon erneut der zweite Akt erheblich profitiert. Im Vergleich zur sonstigen opulenten Bebilderung gibt sich die Wartburg optisch recht karg und aseptisch. Weisse, durchlässige Vorhänge bewegen sich unaufhörlich hin und her, und die Choreografie von Cindy Van Acker im Hintergrund erinnert an Eurythmie-Übungen. Diesem unterkühlten Ambiente ringt Harteros gesanglich und darstellerisch eine aufrichtige, wohltuend warme Passion ab, getragen von einem schmiegsamen, agilen Orchesterklang.

Ohne klare Haltung

In anderen Passagen hat Petrenko bei seinem ersten «Tannhäuser»-Dirigat allerdings durchaus Mühe, in der Tempowahl und Agogik sinnstiftende Lösungen zu finden. Für sein Debüt hat Petrenko gleich mehrere Fassungen des Werks herangezogen, grösstenteils die letzte Bearbeitung Wagners von 1875 zur Wiener Aufführung.

Schon das Vorspiel lässt Petrenko zwischen zelebrierter Getragenheit und wohlartikulierter Phrasierung changieren: zwar stets im Fluss, jedoch ohne klare interpretatorische Haltung. Eine wahre «Entdeckung der Langsamkeit» wurde der wehmutsvolle Gesang Wolframs an den Abendstern im letzten Aufzug, und wiederum sorgte hier Gerhaher mit seiner gestochen klaren Artikulation für klanglichen Zusammenhalt und musikalischen Fluss. Ihm zuvörderst, aber auch Anja Harteros und dem überragenden Staatsopern-Chor war zu verdanken, dass diese zähe Neuinszenierung überhaupt so etwas wie Leben gewann.