In der Schleudertrommel des Weltgeistes

Die Synthese gibt es nicht – lang lebe die Revolution: Bern zeigt Kunst von der russischen Avantgarde bis zur Gegenwart.

Philipp Meier
Drucken
Erik Bulatov: «Sonnenauf- oder Sonnenuntergang», 1989. (Bild: pd)

Erik Bulatov: «Sonnenauf- oder Sonnenuntergang», 1989. (Bild: pd)

Die Kunst der Moderne ist eine Geschichte permanenter Revolution. Erneuert sie sich, verändert sie bisweilen auch die Historie, manchmal gar mit einem kräftigen Hauruck. So geschehen 1967, als der Berner Künstler Olivier Mosset einen schwarzen Kreis malte. Just im Jahr darauf brach während des Pariser Mais die Studentenrevolution los. Was Mosset amüsiert zur Kenntnis nahm. Er hatte sich mit seinem Bild natürlich auf Kasimir Malewitschs «Schwarzes Quadrat» von 1915 bezogen. Dieses stellte eine der radikalsten Kunstrevolutionen dar. 1917 folgte bekanntlich die Russische Revolution.

Malewitschs Ikone der Moderne sucht man allerdings vergeblich in Bern, wo die Ausstellung «Die Revolution ist tot, lang lebe die Revolution» soeben ihre Tore geöffnet hat. Dass das «Schwarze Quadrat» fehlt, ist aber nicht weiter von Belang für diese Schau, markiert es doch gleichsam den Nullpunkt der Malerei, wenn nicht der Kunst überhaupt.

Die Doppelausstellung im Zentrum Paul Klee und im Kunstmuseum Bern aber will zeigen, dass es mit der Kunst immer schon irgendwie weitergegangen ist. Denn von Malewitsch und der russischen Kunst-Avantgarde wurde die moderne Kunst stark beeinflusst, bis nach Südamerika und zur dortigen Spielart des Konstruktivismus oder bis zur Minimal Art eines Donald Judd.

Dialektisches Pingpong

Dass es nach dem «Schwarzen Quadrat» irgendwie weitergehen musste, hatte übrigens auch Malewitsch realisiert. Er wendete sich schliesslich der gegenständlichen Malerei zu und stellte sich gar in den Dienst der sozial-realistischen Propagandakunst der Sowjetunion. Zuvor aber, während der Zeit seiner sogenannt suprematistischen Malerei, vertrat er noch die Auffassung einer absoluten Autonomie der Kunst, die nichts ausserhalb ihrer selbst zu dienen habe. Die Antithese dieser Position stellten die russischen Konstruktivisten dar, die an die Kunst als nützliches Mittel zur Gestaltung der Gesellschaft glaubten.

In der Aufbruchszeit der jungen Sowjetunion war die Öffentlichkeit regelrecht gepflastert mit Propagandakunst.

Von solch dialektischem Wechselspiel lebt die Kunst, nicht nur die Geschichte, wie es Marx in seinem «Kapital» dargestellt hatte. So passt es gut für diese Ausstellung, sich in dialektischer Weise an das Thema heranzutasten. Die Auslegeordnung im Zentrum Paul Klee ist in einem wechselseitigen Pingpong von These und Antithese der Kunst-Ismen angelegt. Der weite Bogen spannt sich hier von den Antagonismen Suprematismus und Konstruktivismus der russischen Avantgarde über das Bauhaus, die Pariser Jahre der Abstraction-Création und die Schweizer Konkreten bis hin zur Düsseldorfer Schule und zum Radical Painting in New York.

Zu dieser grossen Kunsterzählung des Westens gesellt sich aber – sozusagen wie die Faust aufs Auge – im Kunstmuseum Bern eine Schau mit sozial-realistischer Propagandakunst aus der Sowjetunion und der DDR: Kunst, wie sie in unseren Breitengraden weit weniger bekannt ist, geschweige denn als Teil einer allgemeingültigen Kunstgeschichtsschreibung akzeptiert wird.

Diese gleichsam aus der Schmuddelecke der Kunstgeschichte stammenden Exponate aber sind das eigentlich Revolutionäre der Berner Doppelausstellung. Sie vermögen die anerkannte Kunstproduktion in ein neues Licht zu rücken – oder zumindest den Blick auf diese zu erweitern.

Als Propagandamalerei war diese Kunst die grosse Antithese zu den Avantgarden, die nach der Machtübernahme durch Stalin in der Sowjetunion gänzlich zum Verstummen gebracht wurden. Denn Kunst und Kitsch stehen sich diametral entgegen.

Die Kunst auf der einen Seite – so macht es in Anbetracht dieses herausfordernden Dialogs den Anschein – spielte ein ausgesprochen selbstverliebtes Spiel. Da schien es nur noch darum zu gehen, ob sie gänzlich aufgehen sollte in Gestalt der guten Form von Design und Architektur (Bauhaus), oder ob sie aber ihren radikal autonomen Bereich verteidigen sollte in der Überwindung jeglichen individuell-künstlerisch-gestischen Gestaltungswillens, wobei hier als Ausgangspunkt stets Malewitschs «Schwarzes Quadrat» fungierte.

Der Kitsch auf der anderen Seite: Für Propaganda eignet er sich ausgesprochen gut. Unter solchen Vorzeichen stellte sich die Kunst in der neuen kommunistischen Welt in Gestalt gegenständlich-realistischer Malerei völlig in den Dienst von Vision und Utopie eines neuen Menschenschlags. In der Aufbruchszeit der jungen Sowjetunion war die Öffentlichkeit regelrecht gepflastert mit Propagandakunst. An der Gestaltung solcher Plakate beteiligten sich am Anfang noch Kunstschaffende aller Couleur mit Begeisterung. Ob abstrakt, konstruktiv oder gegenständlich: Kunst diente der Gesellschaft. Später unter Stalin dann aber vor allem zu deren Umerziehung.

Ohne Gegenbewegungen kam auch die rigoroseste Propagandakunst nicht aus.

Der Werbung nicht unähnlich, hatte der Sozialistische Realismus nicht viel mit der Realität am Hut, er fabrizierte Wunschbilder – überhöht, romantisiert, kitschig eben. Ihre eigene Antithese produzierte diese ideale Welt der Zukunft aber gleich mit: Die Wirklichkeit bestand in einem sozialen Holocaust mit Millionen von Hungeropfern.

Was in diesem Kontext genau Malewitschs folkloristisch eingefärbte Bauernbilder zu bedeuten hatten, darüber lässt sich rätseln. Sind sie nach seinem «Schwarzen Quadrat», das sozusagen das Ende der Kunst markierte, als ein Rückschritt zu verstehen? Oder realisierte der Künstler, dass nun wieder alles möglich sei? Wollte er mit der Beteiligung an der Gestaltung einer besseren Menschheit der Einbahnstrasse einer sich nur um sich selbst sorgenden Kunst des Westens entgehen?

Oder musste er sich unter den neuen politischen Bedingungen ganz einfach anpassen, um zu überleben? Immerhin ist sein Bild eines Bauern am Kreuz von 1928/29 als Kritik am Programm der proletarischen Diktatur zu verstehen, die mit ihrer Kollektivwirtschaft Millionen von Bauern enteignete und umsiedelte.

Kein Ende der Kunst in Sicht

Ohne Gegenbewegungen kam auch die rigoroseste Propagandakunst nicht aus. Die Künstler fanden Wege, trotzdem zu sagen, was zu sagen verboten war. In seinem monumentalen Bild der Einweihungsfeier einer Wohnung von 1937 etwa zeigt Kusma Petrow-Wodkin unter den versammelten Personen ein paar Typen, die den Betrachter mit halb geöffneten Augen in den Blick nehmen, um zu zeigen, dass die Denunzianten überall sind. Die Eigendynamik der Dialektik reist in dieser Kunst alsbald das Feld auf zwischen Parteilinie und Abwandlung der strikten propagandistischen Bildsprache, in die nun plötzlich Kommentare einfliessen.

So übt Wolfgang Mattheuer mit seiner Serie von «Sisyphos»-Gemälden aus den siebziger Jahren am sozialen Realismus der DDR beissende Kritik. Oder aber die den Sozialistischen Realismus mit seinen eigenen Mitteln parodierende Sots Art, deren Begriff auf die konsumkritische Pop Art des Westens anspielt: Sie reizte etwa in der Malerei von Erik Bulatov, der die Embleme der Sowjetideologie verwendete, die Grenzen der Kritik an derselben bis aufs Äusserste aus.

Die Dialektik der Geschichte findet entgegen Francis Fukuyamas Spekulationen eben zu keiner Synthese.

Mit den Mitteln der Ironie geht wiederum der Nostalgische Sozialistische Realismus eines Vitaly Komar und Alexander Melamid zu Werk: Ironie sei das einzige Mittel, so Komar, um sich von der Indoktrinierung und süssen Infiltrierung der Propaganda zu heilen.

Blickt man auf diese Propagandakunst und ihre antithetischen Versuche, sich aus dem eigenen Würgegriff zu befreien, so mag einem vielleicht auch aufgehen, warum die westliche Kunstentwicklung so radikal verlief.

Darauf, dass diese während des Kalten Kriegs auf ebenso radikale Weise von jener anderen Art von Kunst hinter dem Eisernen Vorhang, der Propagandakunst, herausgefordert wurde, will der litauische Künstler Deimantas Narkevičius hinweisen. Mit seinen Arbeiten fordert er mehr Verständnis für die sowjetische Kunst ein, denn ohne die Verortung dieser Form von Kunst in der Kunstgeschichte könne ein wichtiger Beweggrund westlicher Kunstpraxis gar nicht verstanden werden.

In seinem Filmbeitrag zeigt Narkevičius die berühmt gewordene Video-Episode der Demontage einer Lenin-Statue in Vilnius in umgekehrter Richtung: Wir sehen nun den freudig beklatschten Aufbau eines Lenin-Monuments – ein Hinweis darauf, wie rasch sich der Lauf der Dinge ändern kann. Die Dialektik der Geschichte findet entgegen Francis Fukuyamas Spekulationen eben zu keiner Synthese. Ein Ende der Kunst ist nicht in Sicht. Zu diesem Schluss jedenfalls kommt man nach dem Besuch dieser hervorragenden Doppelausstellung.

Bern, Kunstmuseum und Zentrum Paul Klee, bis 9. Juli. Katalog mit Beiträgen u. a. von Boris Groys, Claudia Jolles, Anna Szech. Fr. 38.–.