Gott helf im Wald!

Plädoyer für eine Sommerhitparade: Jeremias Gotthelf unterwegs im Kanton Zürich und die Nachwuchsautorin Sasha Marianna Salzmann am Schauspielhaus Zürich sind die Besten.

Daniele Muscionico
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Grossvater (Ludwig Boettger) und Enkel (Nils Kahnwald) oder der Versuch einer Familienzusammenführung – beim Fischen im Trüben. (Bild: Raphael Hadad)

Grossvater (Ludwig Boettger) und Enkel (Nils Kahnwald) oder der Versuch einer Familienzusammenführung – beim Fischen im Trüben. (Bild: Raphael Hadad)

Ein Schuss fällt, und der Junge verkriecht sich wie ein wildes Tier im Wald. «Was soll ich mit dir machen?», fragt später der Alte, der geschossen hat – auf seinen Enkel. Keine Beziehung, keine Identität ist, wie sie scheint, im Stück von Sasha Marianna Salzmann, das am Schauspielhaus Zürich seine Schweizer Erstaufführung erlebt. «Muttermale Fenster blau» in der Regie von Tobias Herzberg erzählt von Unbehaustsein im Ungefähren. In seiner atmosphärischen Dichte sprengt es die kleine Kammer im Untergeschoss des grossen Pfauen bereits nach wenigen Minuten.

Salzmann, Hausautorin am Berliner Gorki-Theater, hat sich dem Suchspiel Identität verpflichtet. «Muttermale Fenster blau», uraufgeführt 2012 an den Ruhrfestspielen Recklinghausen, wurde mit dem Kleist-Förderpreis für junge Dramatik ausgezeichnet. Denn in der Leichthändigkeit, mit der das Stück Biografien andeutet, Verwandtschaften insinuiert und Wortgefechte formuliert, trifft es ein Heute.

Abschied von Kahnwald

Salzmann stellt die Frage: Was hält unsere Gesellschaft zusammen? Was wäre der Kitt? Bestimmt nicht das Konstrukt Familie, hier belastet durch eine inzestuöse Ahnung, desillusioniert ihre düstere Dystopie.

Das Stück lebt am Schauspielhaus auch von einer starken Ensembleleistung: Lena Schwarz, eine flügelschlagende Geliebte, Tochter und Mutter; Matthias Neukirch, ein erbärmlich ohnmächtiger Begehrender, Sohn und Vater; Ludwig Boettger, ein verhärteter Grossvater, der an der Seite des ungewollten Enkels ungewollt neue Lebensfreude findet – und Nils Kahnwald als Geheimnisträger, als suchender, irrender, vielleicht auch flunkernder Knabe. Man wird ihn nach dieser Rolle in Zürich besonders vermissen. Nebst Dagmar Litzenberger Vinet verlässt auch er Ende dieser Spielzeit das Ensemble.

Wenn die Autorin in ihrem Psychodrama oder Psychokrimi die Morschheit der Stammbäume andeutet und wenn Tobias Herzberg sein Publikum in einen Wald entführt, gibt es auch diesen nur noch als Behauptung. Den Wald als Allegorie eines verunklärten Gefühlsdickichts allerdings erkennt man plastisch wuchern.

Auf schlankem Fuss

Plastisch auch rettet eine Wanderbühne Jeremias Gotthelf vor dem Vergessen – oder vor Klischees. Der Autor, gemeinhin ein Fall von Liebhaber-, Laien- oder Landschaftsbühnen, ist der neue Aktivposten des Theater Kanton Zürich. Elias Perrig inszeniert «Die schwarze Spinne» mit einer überraschenden Beigabe: Die Autorin Dagrun Hintze stellt die Biedermeier-Opulenz auf den schlanken Fuss von zeitgenössischem Theater. Ihre Fassung verzichtet auf Ritterrüstung und fährt dem Publikum mit den Waffen der Unmittelbarkeit ins Hirn.

Perrigs fein ziselierte und musikalische Regie und Hintzes bis auf den Kern ausgelöste Vorlage machen aus dem Berner Pfarrer einen Gegenwartsautor. Das kleine, grossartig aufgelegte Team spielte sich frei in einem Well-made-Play. Kein Sakrileg, wenn die Darsteller zum Text von Kate Yanai «Bacardi Feeling» summen. Die Gotthelfsche Gesellschaft ist auch jene, die am italienischen Ferienstrand neben Flüchtlingsleichen chillt.

Diese Dorfgesellschaft allerdings ist lediglich in Gedanken unter Palmen. Man lebt unter der Tyrannei der Mächtigen, die Not soll ein Pakt mit einem Fremden lindern. Auch Christine, die sich als Einzige traut und sich für die Gemeinschaft einsetzt, ist eine Zugewanderte; doch kaum geht ihre Absicht schief, wird sie wieder zur Unperson erklärt. Gotthelf schrieb mit seiner Novelle «Die schwarze Spinne» eine Science-Fiction. Denn nach dem Pakt mit dem Grünen und dem Kuss rächt sich die vom Dorf verratene Frau. Aus dem teuflischen Nest ihrer geküssten Wange verbreitet sie ein tödliches Virus, Spinnen.

Gotthelfs Leistungsgesellschaft

Bei Perrig werkelt das Gotthelf-Volk leistungsorientiert in der Holzwerkstatt von Beate Fassnacht. Hier kommt das Taufwasser abwechselnd aus einer Pulle Alkohol und einer Mineralwasserflasche. Nils Torpus’ Pfarrer ist ein hochkomisches Hasenherz, der verheissungsvolle Fremde (unberechenbar bei Michael von Burg) ist der Gigolo von anderswo. Er verdreht Christine den Kopf, verständlich, die lokalen Männer sind laue Memmen. Was wäre dieses Stück ohne starke, unabhängige Frau? Bei Katharina von Bock ist sie bestens aufgehoben.

Christines Spinnen, die das Theater Kanton Zürich freisetzt, breiten sich aus in den Handtaschen, Hosentaschen, in der Hochfrisur des Publikums und unterwandern so unser Zuhause. Sie infiltrieren unsere Gedanken, und die führen zum Schluss: Die Spinne mag die Metapher für einen Tabubruch sein, für einen schleichenden Wertezerfall und Prozess in einer Gesellschaft, die es etwa legitim findet, in Europa neue Mauern zu errichten.

Gotthelfs Menschen mochten auf Mauern verzichten, ihnen half eine höhere Macht. Bei Perrig gibt es diese Hoffnung nicht. Dafür besteht das Versprechen, dass eine «Schwarze Spinne» zu einem Sommerhit wird, der durchaus göttlich ist.

Schauspielhaus Zürich, Kammer, bis 30. Juni. Theater Kanton Zürich, auf Tournee bis 15. Juli.