Ein Star über den Favelas

Seu Jorges Musik schillert in allen Farben. In brasilianischen Krisenzeiten nimmt er Stellung für die Bewohner der Favelas. Daneben widmet er sich aber auch seinem künstlerischen Idol: David Bowie.

Hans Keller
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Seu Jorge hat ein Flair für schillernde Klänge und satirische Lyrics. (Bild: pd)

Seu Jorge hat ein Flair für schillernde Klänge und satirische Lyrics. (Bild: pd)

«Eu Sou Favela» – ein Song wie ein Bekenntnis. In diesem Song (aus dem Album «Cru», 2004) singt Seu Jorge über seine Herkunft: Er ist in einem der zahlreichen Armenviertel Rio de Janeiros aufgewachsen. Und dann hat er sich aus der Gosse bis nach oben gearbeitet.

1970 geboren, interessierte sich Jorge Mario da Silva als Kind schon für Musik. Seit 1998 ist er professioneller Musiker. Internationalen Ruhm brachte Jorge 2002 das Favela-Epos «Cidade de Deus». Zwei Jahre später folgte mit «Cru» – deutsch: «Roh»; der Titel ist Programm – sein erstes wichtiges Album. Auf der Basis von krudem Samba, der vom reibenden Quietschen der Cuíca-Trommel durchzogen ist, provozierte er da mit satirischen und sarkastischen Texten.

Alles noch schlimmer

«Eu Sou Favela»? Was hat sich denn seit jenem Song in den Favelas verändert? Jorge antwortet aufgebracht: «Als ich diesen Song aufnahm», erklärt er mit seiner sonoren Bassstimme, «war die Situation schlecht in den Favelas, sie hat sich aber weiter verschlimmert.» Ganz Brasilien durchlebe eine Krise, es herrschten soziale Spannungen und die Kriminalität habe zugenommen. In den Favelas aber sei die Lage geradezu katastrophal. Die Leute hätten keinerlei Perspektiven, sie würden komplett alleingelassen. «‹Eu Sou Favela› soll sie wissen lassen, dass ich stets mit ihnen bin und mit ihnen fühle.»

Das politische Leben Brasiliens basiert eigentlich auf demokratischen Strukturen – weshalb unternimmt niemand etwas gegen die Armut? Der Musiker führt das auf die Korruption zurück, die das System unterwandere: «Dem muss ein Riegel geschoben werden, wenn man etwas für die Favelas tun will. Wer aber soll da etwas bewirken, wenn die Korruption alles auffrisst?» Vielleicht Seu Jorge? Er habe sich tatsächlich schon überlegt, selber zu politisieren, sei aber davon abgekommen, weil man in Brasilien mit vernünftiger Politik derzeit ja kaum etwas erreiche. Er bleibe bei seiner Musik und seinen satirischen Texten, um damit wenigstens Aufmerksamkeit zu erregen.

Irritationen und Missverständnisse

Seu Jorge weiss mit seiner Musik zu irritieren – und manchmal sorgt er auch für Missverständnisse: Als 2007 sein Album «América Brasil – O Disco» erschien, gingen ihm sowohl die Rockfans als auch die Aficionados der Música Popular Brasileira auf den Leim. Erstere fanden den Krach in «América» super-progressiv, Letztere betrachteten das Werk als Absturz in den Kommerz. Beide Lager verkannten, dass es sich um Satire handelte.

«Samba Rock» lautete ein Songtitel, der den Sound über weite Strecken charakterisierte. In «Burguesinha» (Spiessbürgerin) aber hüpfte ein Kung-Fu-Fighting-Disco-Beat dahin – und Jorge spottete dazu singend über ein Gentry-Girl: «Sie betreibt den ganzen Tag Work-out und sieht fast wie eine Berühmtheit aus. Sie hebt Geld ab, und ihr Chauffeur lenkt den Sportwagen dorthin, wo sie auf dem Dancefloor ihre Hüften schwingt.» So macht er sich lustig über den Einfluss des amerikanischen Pop auf die brasilianische Musik.

Auf dem Album «Seu Jorge and Almaz» ging der Provokateur 2010 einen Schritt weiter in Richtung eines brachial-minimalistischen Neo-Psychedelic. Klassiker wie «Tempo de Amor» erfuhren eine harte Demontage. Und mit einer irrwitzigen Coverversion von Kraftwerks «The Model» machte er sich lustig über die mondäne Welt der Mode, zu welcher auch Brasilien stets seine Damen beisteuert – gerade die Hübschheiten aus den Favelas träumen davon, über «Miss Favela»-Wettbewerbe der Armut zu entkommen.

Einen Schwenk hin zu merkwürdigen Sound-Mixturen vollzog Jorge dann mit den zwei Alben «Músicas Para Churrasco» (Musik für Grilladen) von 2011 und 2015. Auf rhythmischer Samba-Basis ertönen 70er-Funk-Bläser, die Melodik erinnert öfter an Earth, Wind and Fire, während die Satire schillert in den Versen.

Beruhigter Glam-Rock

Seu Jorges musikalische Flexibilität und Unberechenbarkeit erinnern – bei aller stilistischen Distanz – an David Bowie. «Als ich das erste Mal von Bowie gehört habe, war ich zehn», erzählt Jorge. «Seither faszinieren mich seine Songs – vor allem die Science-Fiction-Klassiker». 2004/05 entstand dann im Zusammenhang mit dem Film «The Life Aquatic», in welchem Jorge einen gitarrenzupfenden Seemann spielte, ein einzigartiges Projekt: Er nahm eine CD mit Akustik-Versionen von Bowie-Songs auf. Und Bowie war begeistert: Er lobte Jorges Versionen als beste Fremdinterpretationen seiner Lieder.

Bei Jorge wird aus dem schillernden Glam-Rock von Ziggy Stardust, Rebel Rebel und Space Oddity zwar ein transparenter Sound mit exaltiertem Gesang. In schlichter Form aber kommt die kompositorische Qualität der Bowie-Songs besonders gut zum Ausdruck. Kein Wunder, ist Seu Jorge derzeit mit seinem Bowie-Projekt unterwegs, das ihn auch nach Zürich führt.

Konzert: Zürich, Kaufleuten, 28. Mai.

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