Fünf Arten, das Publikum zu quälen oder zu verwirren

Über das Auffahrtswochenende wurde in Solothurn zum 39. Mal die Literatur gefeiert. Es war ein schönes und fröhliches Fest. Die Akrobaten der Sprache aber sind nicht notwendig auch Athleten des Denkens.

Roman Bucheli
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Lesungen unter Bedingungen zunehmender Hitze: Auch das gab es an den diesjährigen Solothurner Literaturtagen. (Bild: Tina & Thomas Ulrich)

Lesungen unter Bedingungen zunehmender Hitze: Auch das gab es an den diesjährigen Solothurner Literaturtagen. (Bild: Tina & Thomas Ulrich)

Wer den Geist der 68er-Generation atmen möchte, muss nach Solothurn, genauer an die Solothurner Literaturtage. Zum 39. Mal fanden sie übers Auffahrtswochenende statt. Noch immer sitzt man hier auf Bänken an langen Tischen vor dem Restaurant Kreuz. Solothurns Jugend versammelt sich derweil zu Hunderten, wenn nicht zu Tausenden ein paar Meter weiter aareaufwärts, wo sich Bar an Bar reiht, und hat es hier wesentlich bequemer. Auf der Gasse zwischen Landhaus und Kreuz aber verbindet sich wie eh und je Hedonismus mit Anarchie, Postmoderne mit Anachronismus. Nicht, dass es die Literaturtage gibt, ist verwunderlich, aber dass es sie noch immer gibt.

Sie könnten museal sein – und sind es nicht. Sie drohten einmal an ihrem Erbe zu ersticken; heute atmen sie einen freieren Geist. Und selbst einem schwächeren Jahrgang wie dem diesjährigen verhilft Reina Gehrig, als Geschäftsführerin seit vier Jahren die Idealbesetzung, zu fröhlichem Glanz. Im Handstreich verwandelt sie mit ihrem Team das Literaturfestival in ein ausgelassenes Fest.

Die klassischen Wasserglas-Lesungen werden hier längst mit ebenso vielen neuen Formen aufgewogen: Laboratorien bereiten die Zukunft der Literatur im Speziellen und des Daseins im Allgemeinen vor; in Übersetzerworkshops oder Textwerkstätten denkt das Publikum über Sprachprobleme nach. In musikalischen Crossovers zeigen Schriftsteller ihre Zungenfertigkeit: Der Lausanner Slam-Poet Narcisse verband Wort- und Stimmzauber zur Akrobatik. Und der Dichter Michael Fehr strapazierte seine Stimme in einer sprachmusikalischen Performance, die manche Zuhörer das Schlimmste fürchten liess für Fehrs Stimmbänder.

Aber Literatur soll nicht nur verblüffen und erschüttern. Sie soll provozieren, sie muss Zumutung sein und Herausforderung. Und sie ist darum, weil nicht immer alles wunschgemäss gelingt, manchmal ein Ärgernis, gelegentlich hilfreich und mitunter einfach komisch.

1. Komik, unfreiwillig

Die am meisten gefürchtete Frage an einen Schriftsteller lautet: Haben Sie das alles selber erlebt? Solche Tollpatschigkeit wird nur noch übertroffen, wenn Schriftsteller ihre Kollegen nach dem Wahrheitsgehalt ihrer Bücher fragen. «Ist das tatsächlich passiert?», wollte Urs Faes im Gespräch von seiner Kollegin Kathy Zarnegin wissen, fast etwas besorgt. Ihre Romanfigur erzählte von sexuellen Übergriffen. Verwahrte sich Kathy Zarnegin nun gegen die Frage? Im Gegenteil oder nur zum Spiel. Es sei alles noch viel schlimmer gewesen, als sie es dargestellt habe, sagte sie, indem sie stracks alle Grenzen zwischen Fiktion und Biografie wegwischte.

2. Moderation, missverstanden

Moderatoren sind die Schreckensgespenster jeder Lesung. Wenn es poetisch, interessant, packend, pathetisch wird, werfen sie gnadenlos ihre Fragen wie Nebelpetarden in die Runde. «Wo fing der Text an?», wollte man von Martina Clavadetscher wissen, nachdem sie gerade einen ziemlich poetischen Romanauszug vorgelesen hatte. Sie blieb (zum Glück) sprachlos und die Antwort schuldig. Andere verwechseln Moderation mit bedingungsloser Adoration: Tom Kummer wurde eingeführt, als stehe die Vergabe des Literaturnobelpreises unmittelbar bevor.

3. Zynismus, unhinterfragt

Olga Grjasnowa hat einen Roman über den Bürgerkrieg in Syrien geschrieben («Gott ist nicht schüchtern»). Darin erzählt sie das Schicksal zweier junger Menschen, die alles verlieren und das Land verlassen müssen. Sie lässt darin wenig Grausamkeiten aus und schildert Gewalt und Repression bis zur Unerträglichkeit. Und trotzdem sagt sie dann im Gespräch: Sie habe immer die netteste Version der Wirklichkeit gewählt für ihren Roman, weil das Allzurealistische ein Wahrhaftigkeitsproblem habe. Hätte da nicht einer nachfragen müssen: Ist das nun zynisch? Und hat die Literatur nicht längst ihre eigenen Mittel, das Unfassbare darzustellen?

Der Schriftsteller Ilija Trojanow trug seinerseits aus seinem neusten Buch «Nach der Flucht» aphoristische Betrachtungen zur Migration vor. Er umkreist darin das Motiv in zwei Durchgängen und fasst Traumata wie Ängste mit kurzen, prägnanten Beobachtungen ins Bild: Das Leben nach der Flucht sei wie «ein Ausharren im Wartesaal der Wiedergeburt». Oder auch so: «Der Sesshafte neidet dem Nomaden die Freiheit, niemals aber würde er den Platz mit ihm tauschen.» Dann verstieg sich Trojanow aber auch zu so etwas: «Befreiung durch Entwurzelung». Und der Moderator sass stumm und stur daneben und schien sich auch angesichts von Kriegsvertriebenen keine Sekunde zu wundern über solche Migrationsfolklore am Rande des Zynismus.

4. Grössenwahn gefällig?

Der Belgier David van Reybrouck hat es sich zur Mission gemacht, die Demokratie zu retten. In seinem Buch «Gegen Wahlen» diagnostiziert er bedenkenswerte und bemerkenswerte Defizite in vielen Ländern. Seine Hauptthese lautet etwa: Wenn die Bürgerinnen und Bürger alle vier Jahre Gelegenheit erhalten, hinter einem Namen oder einer Partei ein Kreuzchen zu machen oder eine Frage mit Ja oder Nein zu beantworten, dann sei damit zu rechnen, dass in solche Kreuze oder Antworten sehr viel Irrationales hineinfliesse, was mit dem eigentlichen Anlass der Wahl oder der Abstimmung nur am Rande etwas zu tun habe.

Er schlägt darum neue Prozeduren vor. Parlamente sollten nicht gewählt und Entscheide nicht an der Urne gefällt werden. Repräsentanten der Bevölkerung sollten per Los ermittelt werden, diese sollten beraten werden und ihrerseits beraten und dann, solcherart sachlich informiert, ebenso sachlich entscheiden. Das klingt nicht vollends unvernünftig. In Irland wird auf diesem Wege zum Beispiel gerade versucht, das Abtreibungsverbot aus der Verfassung zu tilgen.

Im Gespräch mit Ruth Dällenbach, Präsidentin der Organisation Denknetz, und dem Schriftsteller Lukas Bärfuss machte er indes eine seltsame Bemerkung, die nun allerdings verriet, wes Geistes Kind er ist: Wäre die Brexit-Abstimmung nicht als Referendum, sondern nach dem irischen Modus durchgeführt worden, wäre ein anderes Ergebnis herausgekommen. Und wieder sass da ein Moderator stumm und stur und machte keine Anstalten, mit der nüchternen Bemerkung dazwischenzufahren: Da sei doch glatt in Vergessenheit geraten, dass die Demokratie ein ergebnisoffenes Verfahren sei und jedenfalls noch kein Wunscherfüllungsprogramm dieser oder jener Partei.

5. Selbstironie, befreiend

Die Glanzlichter dieser Literaturtage leuchteten – wie immer in der Kunst – am Rande auf, unerwartet, unverhofft: ein heiterer Ernst als Schalk camoufliert. Die Genferin Catherine Safonoff las aus ihrem neusten Buch eine Szene vor, wie sie im Gefängnis einen Schreibkurs erteilt. Da wird sie von einer Insassin gefragt, ob sie denn an Gott glaube. Und erhält, da sie verneint, eine Antwort, die sie fassungslos macht: «Du behauptest Schriftstellerin zu sein und glaubst nicht an Gott? Das ist unmöglich.»

Sehr passend dazu die Antwort von Julia Weber auf die seltsame Frage der Moderatorin, was denn das Literaturinstitut Biel, wo die junge Autorin studiert hatte, mit ihrem Text gemacht habe. Es fiel ihr nur ein Wort ein, spontan, herzhaft: «Oh, Jesses Gott.» Mehr gab es dazu nicht zu sagen. Ob sie an Gott glaube, war damit freilich auch nicht geklärt. Ihr kraftvoll erzähltes Buch («Immer ist alles schön») reicht fürs Erste als Antwort auf viele Fragen.