Situationskomik und Zeitkritik im Dialog

Überraschend: Carl Spitzweg, der satirische Malerpoet der «guten alten Zeit», mit Erwin Wurm, dem provozierenden Erfinder der One Minute Sculpture, in einer Ausstellung. Geht das? Ja, das geht!

Franz Zelger, Wien
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Abgerutscht – Carl Spitzwegs «Jagdunglück» von 1839. (Bild: Leopold Museum, Wien)

Abgerutscht – Carl Spitzwegs «Jagdunglück» von 1839. (Bild: Leopold Museum, Wien)

Carl Spitzwegs bis heute anhaltender Erfolg beruht zweifellos darauf, dass er in seinen Schilderungen kleinbürgerlich-schrulliger Verhaltensweisen eine überschaubare Welt zeigt, die er mit Witz und Scharfsinn charakterisiert. Doch war sein Humor hintergründiger, als man gemeinhin annimmt. Oft kritisierte er tiefsinnig und pessimistisch die Missstände seiner Zeit. Seine Idyllen, denen so viel Merkwürdiges zu eigen ist, zeugen von grosser Menschenkenntnis. Sie reflektieren kleinbürgerliches Biedermeier und revolutionären Vormärz zugleich. Gerade diesen Aspekt fokussiert die gegenwärtige Wiener Ausstellung. Carl Spitzwegs kleinformatige Gemälde und Zeichnungen treten epochenübergreifend in einen reizvollen Dialog mit Erwin Wurms fotografischen und skulpturalen Werken.

Es mag auf den ersten Blick überraschen, Carl Spitzweg (1808–1885), den populären Malerpoeten und satirischen Chronisten der «guten alten Zeit», mit Erwin Wurm (geb. 1954), dem innovativen und provozierenden Erfinder der One Minute Sculpture, in einer Ausstellung vereint zu sehen. Kann das überhaupt funktionieren? Ja, das geht wunderbar auf, wie die von Hans-Peter Wipplinger kuratierte Schau im Wiener Leopold-Museum beweist, die erste umfassende Präsentation des deutschen Biedermeier-Malers in Österreich, rund 130 Jahre nach seinem Tod.

Autorität und Überwachung

Da korrespondieren Szenen kleinstädtischen Lebens in verwinkelten Altstadtarchitekturen bei Spitzweg mit der monumentalen Installation «Narrow House» von 2010, dem in der Breite zusammengequetschten Elternhaus Erwin Wurms, durch das man die Ausstellung betritt. Hier wie dort herrschen gesellschaftliche Enge und Beschränkung. In einem Überwachungsstaat zieht sich der Bürger gern in einen privaten Winkel zurück. Freie Meinungsäusserung galt zu Spitzwegs Zeiten als äusserst gefährlich. Es war ratsam, nicht über Politik zu sprechen. Zeitungen und Bücher wurden verboten oder nur nach strenger Zensur publiziert.

Darauf reagierte der Maler mit Darstellungen von Zollbeamten, Wachposten, Grenzern und Soldaten. Die «Justitia» steht mit einer defekten Waage kaum für Gerechtigkeit. In diesem Kontext hätte der in Wien leider fehlende «Institutsspaziergang» eine erfrischende Bereicherung bedeutet, auch in Bezug auf die künstlerische Qualität. Da werden unter brütender Sonne uniformierte Schülerinnen durch die Landschaft getrieben von wachsamen Nonnen, die kontrollieren, dass die Blicke der Mädchen nicht abschweifen vom «Pfad der Tugend» zum Liebespaar und zu der auf der Wiese lagernden ländlichen Gesellschaft nebenan.

Auf die Gegenwart übertragen, finden die staatliche Autorität und Überwachung Ausdruck in Wurms Skulptur «New York Police Cap Gold», einer überdimensionalen Uniformmütze, nicht nur schützendes, sondern primär bedrohliches Symbol des Rechtsstaates.

Doppelbödig

Gerne beschäftigte sich Spitzweg mit der Doppelmoral von Priestern und Eremiten, die sich dem Trunk und der Völlerei hingeben, von erotischen Abenteuern träumen und dem weiblichen Geschlecht nachstellen. Dass die zölibatäre Barriere überwindbar ist, zeigt Spitzweg im Werk «Sennerin und Mönch». Als Pendant zu Spitzwegs Geistlichen auf der Suche nach Liebesabenteuern verkörpert Wurms «Ärgerbeule» die ungebändigte, «kopflose» sexuelle Lust. Im Raum mit den Bildern der scheinheiligen, dem Genuss frönenden Mönche bildet Wurms «Home», eine riesige aus der Wand ragende Kartoffel als Symbol des Armenessens, einen eindrücklichen Kontrast.

Auch Wurm hat sich mit dem Priester-Thema auseinandergesetzt. Im Selbstbildnis «The artist begging for mercy» kniet er in schwarzer Kleidung, eine Zitrone wie eine Oblate im Mund, die Hände gefaltet, was Burghart Schmidt fragen lässt: «Ein Gebet nicht nur um Barmherzigkeit, sondern auch um den Applaus des Publikums?» Mit Spitzwegs Sehnsuchtsbildern dialogisiert Wurms vieldeutige Fotografie, die den Pater Winfried in Gebetshaltung auf einem Fussballfeld vor imposanter Bergkulisse posieren lässt. Ebenso amüsant wie tiefsinnig wirkt das Nebeneinander von Wurms Selbstporträt in Gestalt von 36 in Acryl gegossenen Essiggurken und Spitzwegs gleich geformten Kakteen.

Das Leopold-Museum in Wien zeigt Carl Spitzweg und Erwin Wurm in einer spannungsvollen Gegenüberstellung. – Carl Spitzwegs bis heute anhaltender Erfolg beruht zweifellos darauf, dass er in seinen Schilderungen kleinbürgerlich-schrulliger Verhaltensweisen eine überschaubare Welt zeigt, die er mit Witz und Scharfsinn charakterisiert: Der arme Poet, 1838 (Bild: © Privatbesitz; Foto: Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg/Monika Runge)
18 Bilder
Seine Idyllen, denen so viel Merkwürdiges zu eigen ist, zeugen von grosser Menschenkenntnis: Die Dachstube I, 1848–1850 (Bild: © Eckhart G. Grohmann Collection, Milwaukee, WI (USA); Foto: Larry Sanders)
Carl Spitzwegs Bildwelten reflektieren kleinbürgerliches Biedermeier und revolutionären Vormärz zugleich: Der Bücherwurm, 1850 (Bild: Foto/© Museum Georg Schäfer, Schweinfurt)
Humorvoll hat Spitzweg nicht nur das Kleinbürgertum, sondern auch die Wissenschaftsgläubigkeit seiner Zeit aufs Korn genommen. Unmissverständlich offenbart sich da der Gegensatz zwischen Wirklichkeit und Stubengelehrtentum, zwischen Natur und Naturferne, zwischen Leben und Theorie: Der Schmetterlingsfänger, um 1840 (Bild: Foto / © Museum Wiesbaden, Dauerleihgabe der Bundesrepublik Deutschland)
Carl Spitzweg, Der abgefangene Liebesbrief, um 1855 (Bild: Foto / © Museum Georg Schäfer, Schweinfurt)
Carl Spitzweg, Im Putzmachersalon, um 1835 (Bild: Foto / © Museum Georg Schäfer, Schweinfurt)
In einem Überwachungsstaat zieht sich der Bürger gern in einen privaten Winkel zurück. Freie Meinungsäusserung galt zu Spitzwegs Zeiten als äusserst gefährlich. Es war ratsam, nicht über Politik zu sprechen. Zeitungen und Bücher wurden verboten oder nur nach strenger Zensur publiziert: Der Kaktusliebhaber, 1850 (Bild: Foto / © Museum Georg Schäfer, Schweinfurt)
Carl Spitzweg, Ankunft der Postkutsche, um 1859 (Bild: © Eckhart G. Grohmann Collection, Milwaukee, WI (USA); Foto: Larry Sanders)
Der Spiessbürger als «Sonntagsjäger», ein Bild voller Komik: Jagdunglück, 1839 (Bild: © Eckhart G. Grohmann Collection, Milwaukee, WI (USA); Foto: Larry Sanders)
Spitzweg gaukelt dem oberflächlichen Betrachter eine Welt voller Poesie und Arglosigkeit vor, die jedoch beim genaueren Hinsehen doppelbödig wird: Der Sonntagsjäger, um 1841–1848 (Bild: Foto / © Staatsgalerie Stuttgart)
Gerne beschäftigte sich Spitzweg mit der Doppelmoral von Priestern und Eremiten, die sich dem Trunk und der Völlerei hingeben, von erotischen Abenteuern träumen und dem weiblichen Geschlecht nachstellen. Dass die zölibatäre Barriere überwindbar ist, zeigt Spitzweg im Werk «Sennerin und Mönch», 1838 (Bild: © Eckhart G. Grohmann Collection, Milwaukee, WI (USA); Foto: Larry Sanders)
Carl Spitzweg, Der Sonntagsspaziergang, 1841 (Bild: Foto / © Salzburg Museum Foto)
Carl Spitzwegs Humor war hintergründiger, als man gemeinhin annimmt. Oft kritisierte er tiefsinnig und pessimistisch die Missstände seiner Zeit: Der Witwer, um 1860 (Bild: Foto / © Salzburg Museum Foto)
Charakteristisch auch seine Beiträge zum Thema Krieg: Spitzweg zeigt nicht dramatische oder heroische Szenen, sondern Banales: Der Fliegenfänger, 1848 (Bild: © Privatbesitz; Foto: Richard Borek Stiftung, Braunschweig)
Carl Spitzweg, Der strickende Wachposten, 1855 (Bild: © Eckhart G. Grohmann Collection, Milwaukee, WI (USA); Foto: Larry Sanders)
Die «Justitia» steht mit einer defekten Waage kaum für Gerechtigkeit, um 1860 (Bild: © Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg; Foto: Monika Runge)
Carl Spitzweg, Eremit, Hühnchen bratend, 1841 (Bild: © Eckhart G. Grohmann Collection, Milwaukee, WI (USA); Foto: Larry Sanders)
Carl Spitzweg, Selbstbildnis, 1842 (Bild: © Eckhart G. Grohmann Collection, Milwaukee, WI (USA); Foto: Larry Sanders) Zum Artikel

Das Leopold-Museum in Wien zeigt Carl Spitzweg und Erwin Wurm in einer spannungsvollen Gegenüberstellung. – Carl Spitzwegs bis heute anhaltender Erfolg beruht zweifellos darauf, dass er in seinen Schilderungen kleinbürgerlich-schrulliger Verhaltensweisen eine überschaubare Welt zeigt, die er mit Witz und Scharfsinn charakterisiert: Der arme Poet, 1838 (Bild: © Privatbesitz; Foto: Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg/Monika Runge)

Wir können auf dem Rundgang immer wieder feststellen: Spitzweg gaukelt dem oberflächlichen Betrachter eine Welt voller Poesie und Arglosigkeit vor, die jedoch beim genaueren Hinsehen doppelbödig wird. Charakteristisch auch seine Beiträge zum Thema Krieg: Er zeigt nicht dramatische oder heroische Szenen, sondern Banales, gähnende, strickende und schlafende Soldaten. Humorvoll hat Spitzweg nicht nur das Kleinbürgertum, sondern auch die Wissenschaftsgläubigkeit seiner Zeit aufs Korn genommen. Unmissverständlich offenbart sich da der Gegensatz zwischen Wirklichkeit und Stubengelehrtentum, zwischen Natur und Naturferne, zwischen Leben und Theorie.

In diesen Themenkreis gehört der «Bücherwurm», der Schopenhauers Bemerkung «Jeder hält das Ende seines Gesichtskreises für das der Welt» verbildlicht, ebenso wie der «Arme Poet», der, dem geordneten Alltag entrückt, in einer Dachstube Zuflucht gefunden hat, eine groteske Figur, ein lebensuntüchtiges Unikum, korrespondierend mit Wurms «Take your most loved philosophers». Und der «Philosoph im Park» erscheint ganz in sich versunken als dunkle Silhouette in einem englischen Garten und nimmt weder die atmosphärische Vielfalt des Lichtes noch den Tempel oder die hell beleuchtete Venusstatue wahr.

Weiter begegnet man kauzigen Schmetterling- und Vogelfängern. Oder dem Spiessbürger als «Sonntagsjäger», ein Bild voller Komik, das feinsinnig eine Brücke schlägt zu Wurms «Landadel», zumal die Bauern damals unter der Jagdfreude des Adels litten. So vermittelt diese komplexe Schau mit dem treffenden Nebentitel «Köstlich! Köstlich?» viele spannende Entdeckungen. Das Fazit: Idylle ist trügerisch, Witz entlarvt.

Leopold-Museum, Wien, bis 19. Juni. Katalog € 29.90. Ab 2. Juni zeigt das 21er Haus in Wien «Performative Skulpturen» von Erwin Wurm.