Ruhig bleiben und weitermachen? Nein danke

Nach jedem Terroranschlag wird zu Ruhe und Gelassenheit aufgerufen. Aber für Brendan O'Neill fühlt sich diese Ruhe falsch an. Denn sie impliziert, dass wir Terror als Normalität akzeptieren sollten.

Brendan O'Neill
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Am Samstag die Panik, am Montag schon beinah wieder Alltag: Die London Bridge am 5. Juni. (Bild: Chris Ratcliffe / Bloomberg)

Am Samstag die Panik, am Montag schon beinah wieder Alltag: Die London Bridge am 5. Juni. (Bild: Chris Ratcliffe / Bloomberg)

Alles ist «back to normal». Das sagten sie jedenfalls. Schon 48 Stunden nachdem drei mit Messern bewaffnete Männer in den Londoner Samstagabend eingefallen waren. Zehn Tage zuvor waren in Manchester 22 Pop-Fans bei einem Bombenattentat ums Leben gekommen. Das wiederum geschah zwei Monate nachdem ein Autofahrer auf der Westminster Bridge zunächst mehrere Passanten niedergemäht hatte und dann mit einem Messer in der Faust ins Parlamentsgebäude eindringen wollte.

Doch das Leben der Briten nimmt wieder seinen gewohnten, leichten Gang, versichert man uns. Wir sitzen wieder in der Bar. Gehen zur Arbeit. Und den Ariana-Grande-Gig haben wir auch noch über die Bühne gebracht. Wir sind cool. Das Leben geht weiter. Es ist normal.

Aber ist es das? Und noch wichtiger: Sollte es das sein? Sollten wir so rasch zur Normalität zurückkehren, wenn binnen drei Monaten drei barbarische Untaten gegen unsere Mitbürger verübt wurden? Nachdem Kinder zerfetzt und Menschen, die sich einen vergnügten Abend bereiten wollten, mit Messern niedergemacht wurden? Ich bin nicht sicher, ob das richtig ist. Die Normalität beunruhigt mich. Sie fühlt sich falsch an.

Den Post-Terrorismus denken

Die Normalitätsparole wird überall ausgegeben. Kolumnisten beglückwünschen uns, dass wir einfach weitermachen. Die Twitter-Gemeinde verhöhnt die «New York Times», weil sie den Eindruck vermittelte, England «taumle» unter diesen Attacken. Aber nein, «alles geht den gewohnten Gang», wie der «Telegraph» die «New York Times» belehrte.

In gewisser Hinsicht ist dieses Ideal der Normalität, der Rückkehr zum Alltäglichen, tatsächlich bewundernswert. Es spricht für die Gelassenheit der Bevölkerung. Aber es wird immer klarer, dass es auch Passivität impliziert. Dass insbesondere die von oben verordnete Feier der Normalität eher ein moralisches Ausweichmanöver ist, ein Widerwille, sich mit der Gewichtigkeit des Geschehenen auseinanderzusetzen, als ein Nachhall des Stoizismus, mit dem die Briten den Blitzkrieg ertrugen.

Und darin liegt eine ernsthafte Gefahr: nämlich dass wir, indem wir die Normalität nach dem Terror zelebrieren, auch den Terror selbst normalisieren. Dass wir mit unserem «Das bringt mich nicht aus der Ruhe» auch Greueltaten akzeptabel machen. Zu einem akzeptablen Teil unseres Lebens – wie Zugverspätungen.

Diese Kultivierung der Normalität ist keine Feier der Selbstbeherrschung oder des Stoizismus.

Nicht in Panik oder emotionalen Post-Terrorismus zu verfallen, ist zweifellos ein positiver Charakterzug. Und obendrein das beste Gegenargument gegenüber der Panikmache, dass auf islamistische Mordtaten ein «islamophober Backlash» folgen müsse: Die Bevölkerung verhält sich zivilisiert, nicht hasserfüllt.

Aber den Post-Terrorismus nicht zu denken, ihn nicht in einer möglichst breiten und schwierigen Debatte anzugehen, das ist weniger bewundernswert. Und die aktive Kultivierung der Normalität durch die Politiker scheint genau dahin zu gehen: starke Gefühle, unbequeme Fragen und dieses nagende Gefühl zu unterdrücken, dass derzeit nichts normal ist; dass die Ermordung von 34 Menschen aufgrund der reinen Tatsache, dass sie Briten, dass sie unseresgleichen waren, so ungefähr das Gegenteil von Normalität ist.

Ausweichmanöver

In einem Bericht von «Newsweek» hat eine Frau die Normalitätsparole brillant unterlaufen. «Das Leben geht ganz normal weiter, nicht wahr?», wurde sie gefragt. «Es ist überhaupt nicht normal, ich hasse es», entgegnete sie. Ich bin ganz ihrer Meinung. Und ich denke, andere sind es auch. Es ist nicht normal, und das heisst, dass die ständige Beschwörung von Normalität ein ernsthaftes Problem darstellt.

Diese Kultivierung der Normalität ist keine Feier der Selbstbeherrschung oder des Stoizismus. Wir wissen das, weil Stoizismus derzeit in Grossbritannien nachgerade dämonisiert wird. Vor wenigen Wochen engagierten sich Mitglieder der Königsfamilie in einer Kampagne, die das öffentliche Bewusstsein für psychische Krankheiten schärfen sollte; die Medien griffen die Initiative jubelnd auf und verkündeten, dass «die alte griechische Variante des ‹Ruhigbleibens und Weitermachens›» passé sei und dass wir nicht mehr nach den Werten des Stoizismus leben sollten.

Eine Gesellschaft, die uns einlädt, uns zu unseren Schwächen und seelischen Nöten – ob es sich nun um Examensangst oder Beziehungskrisen handelt – zu bekennen, wird schwerlich erwarten, dass wir im Angesicht dreier Massenmorde «ruhig bleiben und weitermachen» sollen.

«Seid normal», sagen sie; und meinen damit: «Seid still.»

Deshalb müssten uns solche Appelle im Kielwasser von Terrorattacken misstrauisch machen. Was sie wirklich sagen wollen, ist: «Bleibt ruhig, und denkt nicht nach. Bleibt ruhig, und stellt die Frage nicht, die in euren Hinterköpfen lauert.» Faktisch geht es um Ausweichmanöver. Bei der letztwöchigen Fernsehdebatte vor den Parlamentswahlen zeigten sich unsere Politiker wenig geneigt, das Wort «islamistisch» auch nur in den Mund zu nehmen. Die Medien warnen uns nach jeder solchen Attacke gestreng vor «islamophoben» Gefühlen. Und dann gibt es die Schlaumeier, die glauben, uns daran erinnern zu müssen, dass wir allemal eher bei einem Autounfall oder beim Ausstieg aus der Badewanne sterben werden als bei einer Terrorattacke.

Die Botschaft lautet nicht «Ruhe bewahren», sondern «Beruhigt euch». Beruhigt euch, und sagt nichts. Beruhigt euch, und tut nichts. «Seid normal», sagen sie; und meinen damit: «Seid still.»

Die Akzeptabilität des Grauens

Diese Manipulationen, die Terrorismus zu einem Verbrechen oder einer Art Naturkatastrophe ummodeln, entkleiden ihn seiner ideologischen und mörderischen Absicht; und sie entheben uns der Verantwortung, darüber nachzudenken, wie wir in Wort und Tat auf jene reagieren sollen, die uns hassen und uns töten wollen.

Durch einen solchen Umgang wird Terrorismus normal: Etwas, worüber der gute Bürger einen Tag lang trauert, bevor er mit einem Gang in den Pub beweist, wie gefasst er die Sache nimmt. Etwas, über das wir scheinbar keine Kontrolle haben; etwas, das wir akzeptieren. Und wenn wir es akzeptieren, ist es logischerweise auch akzeptabel. Die Akzeptabilität des Grauens: Das ist die Botschaft, die wir den Terroristen senden.

Aber nichts davon ist normal. Diese drei Attacken waren gezielte Angriffe auf uns – auf Sie und mich – und auf das, was wir sind. Es waren Gewaltakte gegen unsere Mitbürger und unsere Gesellschaft. Und perfiderweise erodiert diese neue Gewalttätigkeit die in den meisten Konflikten bestehende Linie zwischen eigenem und feindlichem Terrain. Die Bombenleger und Messerstecher, die Feinde unserer Wertvorstellungen, sind unter uns; sie sind aus unserer Gesellschaft hervorgegangen.

Was können wir tun?

«Man kann nichts dagegen tun», heisst es. «Man kann einen Verrückten nicht aufhalten.» Aber wir können sehr wohl etwas tun. Moralisch können wir uns der Resignation verweigern. Intellektuell können wir unsere Werte gegen die ihrigen verteidigen und allem Kulturrelativismus zum Trotz darauf beharren, dass unsere liberalen, demokratischen Ideale ihren theokratischen und hasserfüllten überlegen sind. Zivilgesellschaftlich können wir ein selbstbewussteres, prodemokratisches öffentliches Leben schaffen, wo die Leute für aufklärerische Ideale einstehen und rückständige islamistische Ideologien demontieren. Und physisch – jawohl, das auch – können wir ins Auge fassen, unsere öffentlichen Räume, unsere Orte der Geselligkeit und der Dekadenz, vermehrt auch selbst vor jenen zu schützen, die sie mit Waffen attackieren wollen.

Brendan O'Neill ist Chefredaktor des Online-Magazins «spiked», in dem dieser Kommentar im Original erschien. Er schreibt auch für britische Tageszeitungen und das Arbeitslosenmagazin «Big Issue». Aus dem Englischen von as.