Wurf eines Wilden

Im Berner Gasthaus «Heitere Fahne» unternimmt der Hausautor des Konzert Theater Bern, Elia Rediger, einen Blickwechsel. Der Zuschauer ist Einwanderer und bewirbt sich um Aufnahme – in den Kongo.

Beatrice Eichmann-Leutenegger
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In der Quarantänestation für Einwanderer aus Europa. (Bild: Anette Boutellier)

In der Quarantänestation für Einwanderer aus Europa. (Bild: Anette Boutellier)

Der Ort ist nicht einer wie alle anderen, birgt doch die «Heitere Fahne», Ende 2013 ins Leben gerufen, in der ehemaligen, 1896 erbauten Brauereiwirtschaft des Gurtenbiers in Wabern bei Bern einen überaus reizvollen Kulturort. Denn der Festsaal, wo einst die Essen und Bälle stattfanden, bezaubert auf den ersten Blick. Das Kollektiv «Frei_Raum» führt die Spielstätte als Nonprofit-Betrieb in ehrenamtlicher Arbeit und schafft einen Treffpunkt, wo nicht Konsum und Kommerz dominieren.

So bietet sich dieses ungewöhnliche Haus für nicht alltägliche Theaterprojekte geradezu an. Elia Rediger stellt hier sein Stück «Oh Boyoma» in einer Uraufführung vor. Es ist im Rahmen seiner Hausautorschaft am Konzert Theater Bern und in Zusammenarbeit mit Stück Labor Basel entstanden. Inspirierend wirkte der biografische Hintergrund des Autors, der eine vielseitige Begabung aufweist und unter anderem als Frontmann der Basler Pop-Band «The bianca Story» aufgetreten ist.

Blick in die Zukunft

Der Sohn schweizerischer Entwicklungshelfer wurde in Kinshasa (Demokratische Republik Kongo) geboren und verbrachte hier die ersten Lebensjahre. Gemeinsam mit kongolesischen Künstlern aus den Studios Kabako und Ensemblemitgliedern des Schauspiels von Konzert Theater Bern hat Rediger ein zweisprachiges Stück entwickelt, das in eine nahe Zukunft blickt und eine andere Optik riskiert.

Denn jetzt wandelt sich die «Heitere Fahne» zur kongolesischen Quarantänestation für Einwanderer aus Europa. Männer in gelben Schutzanzügen besprayen mit einem Antimikrobenmittel die Ankömmlinge, die zuerst eine «Immigration Declaration» ausfüllen müssen. «Sind Sie polyresistent?», «Wann wird Ihrer Meinung nach die Welt untergehen?», «Was würden Sie gerne loswerden (lästige Verwandte, Dauermüdigkeit, Falten, Stress)?» – lauten einige der Fragen.

Hat man auf seinem Papier den Stempel gekriegt, setzt man sich an den Tisch, kriegt eine dünne Suppe, Brot und Wasser beziehungsweise Wein. Aber alle sind in diesem Spiel «bienvenu», und wenn sie das Lied «Oh Boyoma» mit seinen 387 (!) Strophen singen können, dürfen sie die Quarantäne verlassen.

Träume und utopische Entwürfe prägen dieses Stück, das sich einem dramatischen Gedicht annähert. Es verzichtet auf kohärente Inhalte und Dialoge mit Spannungspotenzial, verschmilzt dafür Wort, Bewegung, Musik (Elia Rediger) und Videoprojektionen miteinander.

Elementare Kräfte

Witzige Momente blitzen auf, wobei die Situation der «gut genährten» Schweizer Emigranten mit den drolligen Namen satirische Möglichkeiten enthält, die wenig genutzt worden sind. Doch diese hätten das Format eines Friedrich Dürrenmatt erfordert. Düstere Sequenzen liefern dagegen die Erinnerungen der Kongolesen an ihre Geschichte, ihre Toten, ihre Stadt, «die vergessen werden wollte, / um sich von ihren Wunden erholen zu können».

Aber das Vergessen gelingt nicht, denn immer hören die Menschen ein Rauschen, das schon seit je da war: leise, aber mit einer radikalen Energie, steckt doch in allen «Unzähmbares, nicht zu Bändigendes». Sichtbaren Ausdruck findet diese Elementarkraft im exzessiven Tanz Dorines, einer der stärksten Passagen.

Laut und wild gebärdet sich diese Produktion unter der Regie von Michael Lippold, farbig (mit etwas Folklorekitsch) und kummervoll zugleich, von Leben strotzend und von Unheil kündend. Auf einen schlüssigen Nenner lässt sie sich nicht bringen, wirkt auch manchmal noch etwas unausgegoren wie neuer Wein, bleibt aber haften als Wurf eines jungen Wilden.