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Kunst Paralleluniversum

Das beste Kunstwerk der Biennale, das keiner sieht

Ressortleiter Feuilleton
An installation intitled "Pars pro Toto" of Polish artist Alicja Kwade is seen at the Arsenale, during a preview of the 57th International Art Exhibition, in Venice, Italy, Tuesday, May 9, 2017. The Exhibition will be open to the public from Saturday May 13th to Sunday November 26th 2017, at the Giardini and the Arsenale venues. (Andrea Merola/ANSA via AP) An installation intitled "Pars pro Toto" of Polish artist Alicja Kwade is seen at the Arsenale, during a preview of the 57th International Art Exhibition, in Venice, Italy, Tuesday, May 9, 2017. The Exhibition will be open to the public from Saturday May 13th to Sunday November 26th 2017, at the Giardini and the Arsenale venues. (Andrea Merola/ANSA via AP)
Fremder Planet Venedig: Die Künstlerin Alicja Kwade lässt am Arsenale ein ganzes Sonnensystem stranden
Quelle: AP
Entsteht eine bessere Welt, wenn man das eh schon irre Venedig mit Kunst vollstellt und die Szene einfliegt? Ästhetisch mag die Biennale scheitern, als soziale Skulptur ist sie das perfekte Kunstwerk.

Es ist unmöglich, auf dem Balkon des Palazzetto Pisani zu stehen, ohne den goldenen Turm zu kommentieren. Gleich jenseits des Canal Grande, dessen schwarze Wellen unruhig an die Mauern des Palastes klatschen, ragt er in den Nachthimmel: eine sinnlose Säule, zwanzig Meter hoch, makellos und glänzend, nur trägt oder stützt sie nichts.

Die Party ist sehr voll und sehr laut. Es ist eine Kunstparty, und jeder, der mit Zigarette und Champagnerglas an die Brüstung tritt, muss sich irgendwie zu diesem Ding verhalten. Es sieht einfach zu groß, zu teuer, kurz: zu unübersehbar aus. „Was ist denn das?“, fragt man jemanden, und der sagt achselzuckend: „ein Phallus“. Doch dann kommt nicht mehr viel, vielleicht noch der Name des Künstlers, James Lee Byars. Sein Objekt ist auf zu simple Weise zeichenhaft, ein leeres Symbol, Kitsch.

Diese zugegebenerweise etwas oberflächliche Form der Kunstbetrachtung ist nicht ganz untypisch für die Biennale in Venedig, während der die Stadt, die ja selbst nichts anderes ist als ein tausend Jahre altes Kunstwerk, dermaßen mit Kunst vollgestellt wird, dass man gar nicht extra hingucken muss.

Kunstbetrachtung als Prozession

Natürlich sind auch auf der Biennale tiefere Formen der Wahrnehmung möglich, andere Intensitätslevel. Man kann sich dem Gegenstand alleine stellen, sich kontemplativ in ihn versenken, Begleittexte studieren und Kataloge wälzen – das entspricht dann der demütigen Haltung, die der klassische Bildungsreisende noch der zwanzigsten Kirchenfassade entgegenbringt. Aber ein Kunstwerk wird ja auch dann schon rezipiert, wenn es das Publikum durch sein pures Vorhandensein zur Reflexion zwingt, und sei sie noch so standardisiert. So erzählt der goldene Turm, der in seiner mysteriösen Stelenhaftigkeit auch ein Heiligtum sein könnte, vielleicht doch mehr über das Geheimnis der Kunst, als man auf dem Partybalkon ahnt.

Goldener Kitsch James Lee Byars’ phallischer Turm
Ein Phallus? Der goldene Turm von James Lee Byars
Quelle: action press

Die Eröffnungswoche der Biennale ist ein Ritual, bei dem sich die einzelnen Besucher, von oben betrachtet, fast so gleich verhalten wie die Teilnehmer einer Prozession – oder wie die Couscous-Körner, die der französische Künstler Kader Attia in seiner Installation im Arsenale auf Lautsprecher legt, wo sie dann zum Sound knisternder ägyptischer Schallplatten vibrieren und konzentrische Strukturen bilden.

Das fängt schon bei den Schlangen am Flughafen an, wo man den ersten Kuratoren, Kritikern oder Galeristen begegnet. Auch der nervöse Austausch von Informationen über die mehr oder weniger exklusiven Empfänge, die jeden Abend in den dekadentesten Liegenschaften Venedigs stattfinden, folgt einem strengen Schema. Und der gehetzte Schnelldurchlauf durch die zig Länderpavillons und die kilometerlange Hauptausstellung ist ein Parcours, bei dem sich die Individualität am Ende nur noch in Details äußert: ob einem die Schlange vor dem japanischen Pavillon zu lang war, ob man auch den rumänischen Pavillon mitgenommen hat, ob man am Mittag ein Thunfischsandwich oder eine Pasta hinuntergeschlungen hat, ob man mit dem langsamen Wasserbus gefahren ist oder sich trotz Google Maps im Labyrinth der Altstadt verlaufen hat.

Das Gefühl der ewigen Wiederkehr

Gar keine Varianz gab es nur in der Frage, ob man die Arbeit von Anne Imhof im deutschen Pavillon gesehen hat: die düstere Performance mit nackten Balenciaga-Models, jungen Dobermännern, Rollgittern und sehr viel Plexiglas kannte am Ende der Vorbesichtigungstage wirklich jeder, obwohl oder gerade weil sich um den deutschen Pavillon schon nach den ersten Stunden eine an die Kaaba in Mekka erinnernde Menschenschlange gewickelt hatte.

ARCHIV - Eine Akteurin einer Performance von Anne Imhof unter dem Titel «Faust» ist am 10.05.2017 in Venedig (Italien) vor Beginn der 57. Internationale Kunstausstellung, der Biennale (La Biennale di Venezia) bei der Eröffnung des Deutschen Pavillons zu sehen. Der von der Frankfurter Künstlerin gestaltete deutsche Pavillon bekam den Goldenen Löwen als bester nationaler Beitrag. (zu dpa «Goldener Löwe für deutschen Pavillon auf Kunst-Biennale in Venedig» vom 13.05.2017) Foto: Felix Hörhager/dpa +++(c) dpa - Bildfunk+++
Anne Imhofs Performance "Faust" im deutschen Pavillon gewann den Goldenen Löwen
Quelle: dpa

Als soziale Struktur ist die Biennale also extrem stabil. Der Brite Geoff Dyer hat ihr in seinem Bestseller „Sex in Venedig, Tod in Varanasi“ 2009 ein satirisches Denkmal gesetzt. Wenn man den Roman über einen Journalisten, der zur Eröffnung der Biennale reist, auf dem Hinflug zur Einstimmung anliest und dort schon nach wenigen Seiten auf eine Stelle stößt, wo der Titelheld ebenfalls zur Einstimmung im Flugzeug einen Venedig-Roman liest, erfasst einen schon vor der Ankunft ein Gefühl der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Es passt ganz gut in die schon von Nietzsche vergötterte Lagunenstadt, die seit Jahrhunderten im Wechsel der Gezeiten vor sich hin verfällt und dabei doch immer schöner zu werden scheint.

Sozialprojekt mit Superyachten

Das liegt nicht nur an Tizian, Bellini und Tintoretto, sondern eben auch an der Biennale. Sie war schon 1895, als sie als eine Art Weltausstellung der Gegenwartskunst gegründet wurde und auf Anhieb laut offizieller Zählung 224.327 Besucher anzog, ein Sozialprojekt. Der linksliberale Bürgermeister Riccardo Selvatico wollte die im Industriezeitalter heruntergekommene Altstadt damit aufwerten und für den Tourismus erschließen, im Verbund mit sozialem Wohnungsbau, modernen Krankenhäusern und Schulen. Diesen integrierenden Charakter hat die Biennale behalten, auch wenn sie neben Kunsttouristen und Schulklassen irgendwann auch die Reichsten der Reichen anzog. Auch diesmal liegen vor den Giardini mit den Länderpavillons die Superyachten mit Namen wie „Stella Maris“ oder „Addiction“ gleich serienweise vertäut.

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Wenn die Kuratorin Christine Macel in ihrem Grußwort zur Biennale davon schwärmt, in einer „Welt voller Konflikte und Schocks“ sei die Kunst „eine letzte Bastion“, eine „Alternative zu Indifferenz und Individualismus“, dann ruft sie also ein Prinzip auf, dessen Funktionieren man in Venedig zu Zeiten der Biennale beobachten kann. Zur Schönheit dieser paradiesischen Insel kann man sich besonders an einem sonnigen Tag gar nicht indifferent verhalten, tatsächlich ist ausgerechnet diese morbide, auf fauligen Pfählen im Schlamm stehende Stadt eine Art Bastion gegen die realen Verfallsprozesse der Gegenwart, die ja oft auf der Rückseite von Fortschrittsprozessen verlaufen.

Ein Zeittunnel in die Gebärmutter der Skulptur

Läuft man durch die Hauptausstellung der Biennale im Arsenale, wo die Republik Venedig einst ihre hypermoderne und weltweit gefürchtete Kriegsflotte fertigte, fühlt man sich zuerst einmal wie in einem Zeittunnel, der zurückführt in archaische, fast schon prähistorische Welten. Man kommt an abgedunkelten Räumen vorbei, aus denen hypnotische Schamanenstimmen und Trommeln zu hören sind. Es sind kralartige Ringe aus Monitoren aufgebaut, es wird an langen Tischen und Stoffbahnen gewebt und gestrickt, man sieht Filmaufzeichnungen von afrikanischen Stammestänzen und von tanzenden Hippiefamilien in Amerika.

A visitor takes a selfie in front of installation called "Escalade Beyond Chromatic Lands" of the American artist Sheila Hicks during the 57th La Biennale of Venice, Italy May 11, 2017. REUTERS/Stefano Rellandini FOR EDITORIAL USE ONLY. NO RESALES. NO ARCHIVES
Besucher-Selfie vor einer wolligen Installation von Sheila Hicks
Quelle: REUTERS

Es gibt auch kostümierte Filzpuppen und ausgemalte Grotten, mit Schlingpflanzen befüllte Turnschuhe und zu Messern geschliffene Macbooks – eine Art zeitgenössisch interpretierte Jungsteinzeit, eine Rückkehr in die Gebärmutter der menschlichen Kultur. Die Positionen ähneln sich oft so sehr, dass man fast an versehentliche Dopplungen glauben möchte, doch die Botschaft ist klar: Es geht hier nicht um den einzelnen Künstler, nicht ums Werk, es geht um ein sinnstiftendes Netz, aber eins, das nicht aus Glasfaserkabeln oder elektromagnetischen Wellen gebaut ist, sondern aus Schallwellen und Schurwolle.

Campari Soda oder die Wirkung der Ästhetik

Will man Teil der Gegenwelt sein, die hier mit den Mitteln der Installationskunst erzeugt wird? Kann man es überhaupt? Im wabenartigen und mit Rindenmulch ausgestreuten Polyamidzelt von Ernesto Neto sitzen Besucher, die eindeutig zur Post-Internet-Generation gehören, und checken entspannt ihre Handys, die Schuhe stehen vor dem Eingang. Wenn einen das Arsenale dann auf der Rückseite wieder ausspuckt, ist man froh, neben den kontextlos im Kies liegenden, fabelhaft glatten Marmorplaneten von Alicja Kwade zu stehen, eben weil sie geradewegs aus dem Ideenhimmel gefallen zu sein scheinen und nicht aus der Mitmachwerkstatt stammen. Außerdem kann man hier, an einem der vielen schönsten Orte der Biennale, Campari Soda aus Plastikbechern trinken und die Sonne hinter den alten Schiffsbecken versinken sehen.

Wenn man dann noch Gesellschaft findet, ist es unmöglich, keine Witze zu machen über den esoterischen Ansatz, der sich durch die Ausstellung zieht wie ein grober roter Wollfaden. Irgendjemand in der Runde nimmt dann bestimmt die Gegenposition ein und erinnert an einen Moment der Intensität, erklärt etwa eine bestimmte, blaue Videoprojektion ganz anders, und im Reden formt sich sofort eine flüchtige Stammesgemeinschaft, in der abenteuerliche Gedanken über Objekte ausgetauscht werden, von denen doch am Ende niemand sagen kann, was für Objekte sie wirklich sind.

Vielleicht ist das nicht die weltverändernde Wirkung der Kunst, die Christine Macel so pathetisch beschwört. Aber vielleicht genügt sie.

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