Man stellt es sich ja doch ganz nett vor, dieses alte Griechenland. Strahlender Sonnenschein, angenehme Temperaturen, anregende Diskussionen im Freien. Während man so im lockeren Geplauder über die Agora streifte, den vom dörflichen Markt zum Mittelpunkt der Polis urbanisierten Versammlungsplatz, erfand man nebenbei die Demokratie. Und in der dort stehenden Säulenhalle, der Stoa, dachten ein paar Stoiker darüber nach, dass man die hier ertönende Vielstimmigkeit der Meinungen nur durch Gelassenheit ertragen kann.
Die alten Römer machten, wie üblich, aus den griechischen Errungenschaften Spektakel und Event. Das Forum Romanum gestalteten sie als erste Multifunktionsarena der Kulturgeschichte. In einem der prächtigsten Orte von Rom wurde geredet, debattiert, Öffentliches verlautbart und politischer Streit angezettelt. Hier hielt man Gericht, huldigte den Göttern, und an freien Tagen kämpften sogar Gladiatoren.
Seit dem Niedergang des Römischen Imperiums allerdings ging es auch mit dem Forum bergab. Heute nennt man Einkaufszentren von Bernau bis Wetzlar so. Allerdings hat man dazwischen immer wieder einmal versucht, den vor allem in Gedanken edlen Treffpunkt in der Wirklichkeit nachzubauen. Natürlich auch in Berlin, der aus märkischem Staub erwachsenen Hauptstadt der Aufklärung. Hier war es im 18. Jahrhundert Friedrich II. selbst, der sich als Bauherr wie am Zeichentisch verwirklichte.
Friedrich der Große entwarf das erste Kulturforum
Zu seinem Forum Fridericianum gehörten ein barockes Opernhaus, ein übergroßes Palais für Prinz Heinrich, eine den Michaelertrakt der Wiener Hofburg plagiierende Bibliothek, eine aus der Reihe tanzende katholische Kirche, ein pragmatischer Abschluss mit Zweckbauten und mitten hindurch die Prachtstraße Unter den Linden. Heute logieren Humboldt-Universität, Staatsoper und der katholische Erzbischof an diesem wahrlich urbanen Platz, der auch das erste Berliner Kulturforum ist.
Das zweite Berliner Kulturforum aber gibt es gar nicht. Nicht in der Realität jedenfalls. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist es lediglich Gegenstand des ständigen Streits darüber, dass es so etwas geben solle wie ein Kulturforum und dass es schon Wirklichkeit werde, wenn man eine Planstelle im Weichbild Berlins einfach mal so bezeichnet. Denn selbst hier sind die Gedanken manchmal edel und groß. Wie schön wäre es doch, einen Platz zu haben, an dem man sich trifft und austauscht und trotz verschiedener Meinungen doch erweitert und inspiriert auseinandergeht, nur um diesen wunderbaren Ort gerade deshalb wieder und wieder aufzusuchen.
Der Ort, den man allenthalben Kulturforum nennt, liegt seit siebzig Jahren in der Mitte Berlins. Als die Trümmer des Kriegs geräumt waren, stand hier nicht mehr allzu viel – auch, weil Albert Speer schon begonnen hatte, Tabula rasa zu machen. Der Nazichefstadtplaner wollte seine monumentale Nord-Süd-Achse durch das großbürgerliche Viertel südlich des Tiergartens schlagen und ließ schon mal großzügig abreißen, einen riesigen Kreisverkehr anlegen und erste Protzbauten errichten. Dann fielen die Bomben. Und in den Jahrzehnten danach hagelte es Argumente, Wettbewerbe, Gutachterverfahren, Entwürfe und Entscheidungen.
Scharoun träumt von der Stadtlandschaft
Am 20. Mai 1945 war der Architekt Hans Scharoun neuer Baustadtrat des noch nicht geteilten Groß-Berlin geworden. Als unbedingter Modernist in diesem Amt verordnete er der Stadt eine grundlegende und radikale Neuplanung. Und auch wenn er ein Jahr später schon durch den konservativen Karl Bonatz ersetzt wurde (ein paar Jahr zuvor war der noch Stadtbaumeister unter Speer), blieb Scharouns Traum von der Stadtlandschaft die Idealvorstellung. Tatsächlich war das Tiergartenviertel bis weit in die Siebzigerjahre hinein mehr Landschaft als Stadt. Die Ruinen wurden abgeräumt, Pioniergehölze breiteten sich aus, nur wenige historische Gebäude wie die evangelische Matthäuskirche wurden rekonstruiert.
Und in dieser Stadtlandschaft sollte sich nun ein Kulturforum einbetten, sozusagen als West-Berliner Gegenstück zur verlorenen Museumsinsel und dem Forum Fridericianum in Ost-Berlin. Scharoun, mittlerweile TU-Professor, durfte anfangen und seine Philharmonie bauen, die er eigentlich für einen anderen Standort in Berlin entworfen hatte (1963). Der in die USA emigrierte Ludwig Mies van der Rohe konnte danach seinen Entwurf für das Bacardi-Hauptquartier, das er in Havanna nicht mehr bauen durfte, als Neue Nationalgalerie für die Staatlichen Museen zu Berlin errichten (1968).
Es folgten noch die Staatsbibliothek (1978) und der Kammermusiksaal (1987) nach Entwürfen von Scharoun, das als Brutalismus geschmähte Kunstgewerbemuseum von Rolf Gutbrod (1985), der auch Kupferstichkabinett und Kunstbibliothek entwarf, sowie die etwas unscheinbare, aber immerhin funktionale Gemäldegalerie von Hilmer und Sattler (1998).
Ein Forum aber, das wollte sich nicht einstellen. Es blieb Worthülse im Dauerdisput aller Beteiligten – Architekten, Stadtplaner, Senatoren, Staatssekretäre, Baudirektoren, Journalisten.
Ergibt sich ein Forum von selbst?
Reisen wir also noch einmal kurz in der Zeit zurück. Was genau war die Agora, das Forum? Baulich gesehen: ein von Säulen oder Gebäuden umsäumter, von Tempeln akzentuierter, von Architektur gefasster Raum. Ein Freiraum, würde man im Wettbewerbssprech unserer Tage sagen. Und genau so, dachten die Kulturforumsplaner, müsste es doch immer noch funktionieren: Lasst uns einfach Museen, Konzertsäle, Leihbüchereien von Weltrang errichten, der Rest wird dann schon ein Forum ergeben.
Hier gestalten wir noch von Künstlerhand einen Platz (und nennen ihn „Piazzetta“ für etwas südliches Flair), da lassen wir Freiraumplaner walten (und bekommen dann weder Stadt noch Landschaft, bloß Landschaftsarchitektur), und dort überlassen wir einfach alles sich selbst (ein probates Berliner Mittel). Dass sich die Brache aus Schotter, Asphalt und Granit nie zum Forum gestaltete, liegt nicht nur am Berliner Klima mit einigen Wintermonaten mehr als in Rom oder Mykene.
Mit der Planung eines neuen Museums an diesem Unort kam vor einigen Jahren neuer Wind auf – kein warmer allerdings, wie sich mittlerweile zeigt. Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz wünschte sich ein zusätzliches Haus, um der Neuen Nationalgalerie, die zu klein und für viele Ausstellungsvorhaben auch zu unflexibel war, etwas Luft zu verschaffen.
Ein Haus für das 20. Jahrhundert sollte es sein, um sich auch die Schenkungen von Privatsammlern zu sichern, die lautstark nach Immobilien verlangten. Und plötzlich waren sogar 200 Millionen Euro vom Bund da und ein Grundstück hinter der Neuen Nationalgalerie. Als Kulturstaatsministerin Monika Grütters die Sache in die Hand nahm, ging es aus der zweiten Reihe flugs nach vorne, an die Potsdamer Straße, die allerdings eher Autobahn als Boulevard ist, direkt zwischen Mies und Scharoun.
Das neue Museum soll die urbane Misere lösen
Und natürlich: Im Vorfeld des Ideenwettbewerbs für das „M20“, nach der Vorstellung der zehn Favoriten der Jury und der Ausstellung der Hunderten von eingereichten Entwürfen, vor dem Realisierungswettbewerb und der Kür des Gewinners wurde auch wieder das Kulturforum diskutiert. Die Ausschreibung erhoffte sich sozusagen den eierlegenden Wollmilchbau, der Stiftung, Museumsleute und Sammler glücklich macht, das Budget einhält, die Nachbarbauten demütig respektiert, sich gleichwohl architektonisch etwas traut – vor allem aber die urbane Misere endlich einmal auflöst.
Die Berliner Senatsverwaltung für Stadtentwicklung hatte nämlich klargemacht, dass sie die Änderung der städtebaulichen Situation nicht angehen würde. Das aber ist so ziemlich das einzige, was alle Widersacher am Kulturforum in Einigkeit für nötig halten.
Wenn sich der Bauherr nun an das Urteil des Preisgerichts hält, dann wird das Museum des 20. Jahrhunderts gebaut – vom Architekturbüro Herzog & de Meuron. Die Baseler Stararchitekten haben den Wettbewerb nicht unverdient gewonnen, auch wenn ihr robuster Entwurf viel Kritik bekommen hat. Der monumentale, zeltartige Backsteinbau verlegt den Forumsgedanken eines kollektiven archaischen Treffpunkts ins Innere. Über eine Wegekreuzung sollen Staatsbibliothek und Museen, Neue Nationalgalerie und Philharmonie angebunden werden. Das Grundstück füllt er komplett aus und verkleinert drastisch den leeren Stadtraum.
Es ist wohl nicht nötig zu erwähnen, dass indessen weiter gestritten wird. Jüngst wurde sogar eine Online-Petition gegründet: Die Öffentlichkeit müsse dringend miteinbezogen werden. Es wird sogar ein Gerüst gefordert, das den Baukörper an Ort und Stelle simuliert, weil man dessen Dimensionen fürchtet.
Stadt ist, wenn sich Häuser manchmal verdecken
Es stimmt, das M20 wird ein ziemlich großes Haus, das gesehen werden will. Es rückt dicht an die Nationalgalerie und geradezu aufdringlich nah an die Kirche heran. Und ja, aus irgendeinem Blickwinkel wird es wohl auch die stolze Philharmonie verdecken. Aber so ist es in einer Stadt, möchte man meinen, da verdeckt eben ein Gebäude das andere. Deshalb muss man sich in einer Stadt bewegen, geistig wie körperlich. Und auch dafür war so ein Forum ja ursprünglich mal gedacht (siehe oben).
Bisher hat die Petition nur 700 Unterstützer gefunden. Aber unzählige Kommentatoren trollen sich bereits auf der Webseite. So viele Diskutanten würde man sich im Kulturforum wünschen, aber das wird wohl niemals geschehen. Nicht trotz oder wegen eines Museumsneubaus, nicht wegen des Februarwetters im Mai, nicht weil man die Öffentlichkeit nicht eingebunden hätte, sondern vielleicht nur, weil man heute lieber Internetforen besucht. In diesem Freiraum kann man seine Meinung ganz ungezwungen artikulieren und sich wirklich wahrgenommen fühlen, ohne vor die Tür gehen zu müssen.
Ein Vorschlag: Verabschieden wir uns endlich von dem Begriff Kulturforum! Nach siebzig Jahren Dauerzwist ist die hehre Idee gescheitert. Gerade hier findet die Kultur in den Gebäuden statt und nicht dazwischen: Die Philharmonie ist einer der weltbesten Konzertsäle. Die Sammlung der Museen ist trotz mancher Lücken so schlecht auch nicht. Die Staatsbibliothek ist Parship und Tinder zum Trotz der beliebteste Kontakthof von Berlin. Und über die Piazzetta kann man sich aufregen – oder mit dem Skateboard Ollies auf ihr üben.
Wir befinden uns eben weder im alten Griechenland, noch laufen wir mit Sandalen durch das untergehende Rom. Und Berlin ist eben verdammt dazu, immerfort zu werden und niemals zu sein. Karl Schefflers über hundert Jahre alter Satz gilt noch. Auch für die Stadtentwicklung. Versuchen wir es also mit Bewegung statt Erstarrung, mit Stadt statt Landschaft – und mit herausfordernder Dichte statt zu viel freiem Platz.