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Literatur Walter Benjamin

Als ihn die Grenzer stoppten, schluckte er sein Gift

Das "Passagen"-Denkmal an der französisch-spanischen Grenze in Portbou erinnert an Walter Benjamins Sterbeort Das "Passagen"-Denkmal an der französisch-spanischen Grenze in Portbou erinnert an Walter Benjamins Sterbeort
Das "Passagen"-Denkmal an der französisch-spanischen Grenze in Portbou erinnert an Walter Benjamins Sterbeort
Quelle: picture-alliance / akg-images /
Meisterdenker Walter Benjamin ließ sich von seinen Frauen inspirieren und hatte ein obsessives Verhältnis zum Geld. Eine neue Biografie interpretiert ihn nun von seinem Ende her: seinem Suizid.

Schwer herzkrank befindet sich der deutsche Philosoph Walter Benjamin 1940 auf der Flucht vor den deutschen Häschern, die ihn als Juden verfolgen. Ihm gelingt es, sich einer Gruppe anzuschließen, mit der er sich bei Portbou über die französisch-spanische Grenze in Sicherheit zu bringen hofft. Doch lassen die Spanier sie nicht passieren.

Benjamin nimmt Gift. Am Abend des 26. September stirbt er einsam in seinem Hotelzimmer. Die Gruppe darf anschließend einreisen. Er wird dort beerdigt; seine Aktentasche hat sich erhalten, nicht aber die Papiere darin, die er wie seinen Augapfel gehütet hatte.

Einflussreicher Denker

Benjamin war damals als Kritiker und Philosoph eher wenigen, aber bedeutenden Geistern bekannt und bemerkenswert gewesen, Ernst Bloch, Bertolt Brecht oder Hugo von Hofmannsthal etwa. Seine Freunde Theodor W. Adorno und Gershom Scholem sammelten, sicherten und verbreiteten seinen Nachlass, der Benjamin bis heute zu einem der einflussreichsten Denker macht.

Der am 15. Juli 1892 in Charlottenburg geborene Sohn eines Kunsthändlers wurde 1919 über die Kunstkritik in der Romantik promoviert, scheiterte aber 1925 in Frankfurt am Main mit seiner Habilitationsschrift über das barocke Trauerspiel. Seine Schrift galt den durchaus renommierten Professoren als verstiegen und unverständlich.

Akademisch gescheitert

Heute wird sie noch und noch ausgelegt, wie überhaupt sein Werk eine schier unüberschaubare akademische Ausdeutungsindustrie in Lohn und Brot gesetzt hat, die Benjamin, nach der gescheiterten akademischen Karriere als freier Schriftsteller in prekären Verhältnissen lebend, seinerzeit oft genug nicht hinreichten.

Unvorstellbar, dass es heute zwischen jüdischem Messianismus und voluntaristischem Kommunismus, Theologie und Profanitätskunde, Jugendbewegung und Endzeitbitternis, Dichtung und Theorie, Geschlechts- und Geisterkunde noch irgend einen Benjamin-Aspekt geben könnte, der nicht aus- und überdeutet schiene.

Noch eine Benjamin-Biografie?

Unvorstellbar ebenso, dass wir noch einer weiteren Benjamin-Biografie bedurften. Doch die jetzt erscheinende, von Lorenz Jäger verfasste, ist tatsächlich eine ganz besondere, nämlich höchst scharfsinnige und zugleich völlig transparente Intellektualbiografie, die Leben und Werk, Eigen- und Umwelt in zwingender Verschränkung darstellt.

Um 1913 hatte der Zwanzigjährige in seiner Schrift „Metaphysik der Jugend“ – unbeantwortet – die kryptische Frage gestellt: „Sind wir Zeit?“ Am Ende seiner illuminierenden Biografie beantwortet Jäger die Frage so: „Es gibt keinen Menschen, der von heute aus gesehen, so sehr Zeit ‚ist‘ wie Benjamin.“

Benjamin vom Suizid her begreifen

Jäger hat dabei den elementaren Aspekt von Benjamins Leben im Sinn, seinen Suizid: „Er ist Zeit in dem Sinne, dass wir uns die Epoche ohne seinen Tod in Portbou nicht vorstellen können.“ Jäger liest Benjamins Leben und Nachwirkung als Einlösung der rätselhaften Formel des Jugendlichen: „wir Verstorbenen, die wir auferstehen in dem, was uns zustößt“.

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Lorenz Jäger, bis Ende letzten Jahres Redakteur für Geisteswissenschaften bei der „FAZ“, ist Autor einer „politischen Biografie“ Theodor W. Adornos. Des Weiteren hat er Bücher über Astrologie, das Hakenkreuz und den esoterischen Denker Florens Christian Rang verfasst.

Der esoterische Benjamin

Jäger schätzt die Bemühungen von Scholem und Adorno um Benjamins Werk hoch; gleichwohl verschiebt er den Fokus hin zu jenem Benjamin, der seit jeher an esoterischen Praktiken höchst interessiert war: Astrologie, Chiromantie, Grafologie, Physiognomie und Traumdeutung.

Jäger führt damit in die Zeit unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg zurück, die extrem geprägt war von bündischem Zirkelwesen, Manifesten und Kulten, esoterisch-theosophischen Lehren, polyhistorischer Bildung und in alledem durch Radikalismen der Endzeiterwartung, der Sehnsucht nach „Wandlung“ und Erlösung.

Walter Benjamin (1892 - 1940)
Walter Benjamin (1892 - 1940)
Quelle: picture alliance / dpa

Zugleich rückt er Benjamin als Virtuosen der Zeichendeutung ins Zentrum. Hier war einer fasziniert von Schrift, Schreiben, Lesen, Deuten, von der Materialität der Zeichen wie der Zeichenhaftigkeit alles Materialen.

Jäger rekonstruiert, wie Benjamins mantische Praktiken nicht so sehr irrationale Opposition zur Rationalität, sondern deren subtile Steigerungsform sind. Er zeigt, zu welch fulminanten Einsichten und faszinierenden Bindungen, aber auch selbstdestruktiver Verstiegenheit, zu der Einsamkeit führt, der er damit so verzweifelt zu entkommen suchte.

Von Asja Lacis bis Hélène Léger

„Ich habe drei verschiedene Frauen in meinem Leben kennengelernt und drei verschiedene Männer in mir“, bilanzierte Benjamin 1939. Plastisch arbeitet Jäger heraus, wie bei Benjamin von Jugend an persönliche Beziehungen seine „Pfadentscheidungen“ bestimmten.

Es waren stets konkrete Personen, die „metaphysische Umwälzungen“ bei ihm auslösten – Frauen zumal, und entschieden mehr als drei, von der kindlichen Luise von Landau, die ihm das Muster des Adligen eingab über die ihn kommunistisch „elektrifizierende“ Asja Lacis bis hin zur späten wahren „Sexualware“ Hélène Léger.

Geistige Einflüsse

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Ludwig Strauss gab ihm die Idee vom Judentum als „vornehmster Träger und Repräsentant des Geistigen“ ein, Gershom Scholem brachte ihn auf die jüdische Mystik und Genealogie, Werner Kraft auf die Idee der Gerechtigkeit, und Bertolt Brecht auf den Kult des Niedrigen und Gemeinen.

Überdies stellt Jäger Benjamin in den Zusammenhang zeitgenössischer Avantgarden der konstruktiven Destruktion – Dada und Surrealismus zumal. Er konturiert den Denker Benjamin auf ebenso verblüffende wie scharfsichtige Weise aus den physiognomischen Zeugnissen seiner Freunde und Bekannten: Augen und Stirn, Mund und Nase.

Es muss nicht immer die Aura sein

„Brillengläser, die wie kleine Scheinwerfer Lichter werfen, dichtes, dunkles Haar, schmale Nase, ungeschickte Hände – die Pakete fielen ihm aus der Hand. Im Ganzen – ein solider Intellektueller, einer von den Wohlhabenden“, so Asja Lacis, die „bolschewistische Lettin aus Riga, die am Theater spielt und Regie führt, eine Christin“, wie Benjamin 1924 aus Capri an Scholem schrieb.

Jägers Biografie geht zunächst einmal nicht denjenigen Begriffsprägungen wie „Aura“ nach, die mit dem Namen Benjamins fix verbunden sind, sondern einem vermeintlich unscheinbaren Aspekt wie dem der Krone – die dem König sozusagen wesenseigen ist, mag sie auch schief sitzen oder aus Papier sein.

Ein heimlicher König

Jäger zeigt uns einen geradezu monarchistischen Benjamin, einen heimlichen König, der in seinen Kindheitserinnerungen über den Fingerhut der Mutter schreibt: „Denn gern bemächtigten wir uns der kleinen Krone, die im Verborgenen uns bekrönen könnte.“

Neben Begriffen, die für Benjamins Denken von früh auf zentral waren – Liebe, Sprache, Gewalt, Tod/Leiche – widmet sich Jäger dem Begriff des Geldes, der Benjamins Denken und prekäres Leben bis zu seinem Ende bestimmte.

Geld zum Streicheln

Geld steht dem Gekrönten diametral entgegen, ist zweifache Obsession: zum einen im immensen Geldbündel, von dem ein Freund verwundert berichtete, dass Benjamin es, statt zu zahlen, lange träumerisch streichelte, zum anderen in seinen späten Schriften.

Darin hat Benjamin das Thema derart zum dämonisch ubiquitären „Kapital“ und zum Gespenst der „Ware“ aufgebläht, dass Adorno ihn darob als „wahnsinnig gewordenen Wandervogel“ titulierte.

Die Ware als fixe Idee

Von „maschinenhafter“ Deutung, die alles zu Ware erkläre, spricht Jäger. Selbst Richard Wagner hat in der Warenwirtschaft einen Auftritt: Das Gesamtkunstwerk versuche, „die Kunst gegen die Entwicklung der Technik abzudichten. Die Weihe, mit der es sich zelebriert, ist das Pendant der Zerstreuung, die die Ware verklärt.“ „Nicht mehr mit einer Theorie hat man es zu tun“, schreibt Jäger, „sondern mit einer gnadenlosen fixen Idee.“

Auch die Frage der Wirkung von Benjamins Prosa bedenkt Jäger. In seinen besten Momenten schreibe Benjamin „ein klassisches Deutsch eigener Prägung, das geradezu klingt, als habe er diese vollendete Diktion allererst erfunden. Benjamins Stil war einer der bedeutendsten, aber auch der letzten Versuche aus dem intellektuellen Milieu, autoritativ und autoritär zu schreiben“, in diesem Sinne verkörpert Benjamin einen „Einspruch gegen jeden Pluralismus“.

Wie Alfred Kerr behauptete er Eigenständigkeit, ja Superiorität der Kritik gegenüber ihren Gegenständen, aber unterhaltsam zu plaudern wie Feuilletonisten vom Schlage Kerrs, das war ihm ein Gräuel – so entstanden seine scharfkantigen, in blitzartigen Sentenzen verdichteten und verrätselten „Denkbilder“.

Im Zeitalter der Extreme

Jäger insistiert auf Benjamins Zugehörigkeit zum Extremismus im Zeitalter der Extreme, ein Extremismus der Form zunächst mehr denn des Inhalts. Benjamin selbst notiert, wie „die ästhetische Einheit von Form und Inhalt zur Zweideutigkeit der Form und des Inhalts wird“.

Zweideutigkeit ist sein Metier; er sieht sie überall, bei der Hure als Sexus und Ware, in der Passage als Raum und Straße, bei Autoren wie Hofmannsthal, Kraus oder Proust ebenso wie in Goethes „Wahlverwandtschaften“. Zweideutigkeit, schrieb er, „ist die bildliche Erscheinung der Dialektik“.

Die Passage als Prinzip

„Auf kaum etwas war Benjamin als Philosoph so vorbereitet wie auf die Zweideutigkeiten, die nun manifest wurden“, schreibt Jäger zur Zeit um 1933 und danach. In der Zweideutigkeit steckt die Figur des Umschlags. Es ist die Figur des Saturnischen, der Melancholie.

So wie im Passagenwerk kompositorisch „die Welt der Träumer in die der Wachen“ umschlagen sollte, so schlug ihm dumpfes Brüten in jähen Geistesblitz, Nüchternheit in Rausch, Theologie in Materialismus, Profanes in Heiliges, Askese in Hedonismus, Bild in Begriff um. Wie stets auch umgekehrt.

In alledem kann man nicht nur Benjamins Leben und Werk komplementär zu dem von Siegfried Kracauer lesen, der hier am Rande vorkommt. Auch Jägers Benjamin-Biografie wirkt geradezu komplementär zu der im letzten Herbst erschienenen Kracauer-Biografie von Jörg Später.

Später liefert ein Panorama der Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts, zeigt ein dynamisches Netzwerk an jüdischen Intellektuellen, bei allen Rivalitäten alles in allem doch Gelehrtenrepublik.

Jäger wiederum bietet die dazu notwendige Ergänzung: Faszinationen wie Gefährdungen extremistischen, radikalen und diktatorischen Denkens, wie die bei allen Liebes-, Freundschafts- und Diskursbeziehungen existenzielle Einsamkeit und Verlassenheit.

Das Schlusskapitel als Höhepunkt

So ist sein Schlusskapitel ein Höhepunkt, nicht nur wegen des bewegend geschilderten Endes Benjamins, sondern weit darüber hinaus durch den deutenden Kreisschluss, den es zieht, indem es das Ende als Einlösung der jugendlichen Metaphysik liest.

Ein Unvollendeter, wie der Untertitel ihn nennt, war er zwischendrin, aber ist dieser Benjamin an solchem Ende nicht mehr. Er wäre es demzufolge geblieben, hätte er überlebt. Benjaminscher kann wohl keine Biografie Benjamins sein.

Lorenz Jäger: „Walter Benjamin. Das Leben eines Unvollendeten“. Rowohlt Berlin, 384 S. 26,95 €.

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