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Literatur Andreas Stichmann

Ein Buch der Sorte „Türkis-Optimistisch“

Berufsoptimist: Autor Andreas Stichmann Berufsoptimist: Autor Andreas Stichmann
Berufsoptimist: Autor Andreas Stichmann
Quelle: picture alliance / dpa
Andreas Stichmann ist einer unserer originellsten Erzähler. Auf dem Sonnenhof seines Romans, einem hippiesken sozialen Wohnprojekt, tummeln sich paranormale Existenzen und moderne Weltverbesserer.

Das Leben ist ein Sonnenhof. Am Komposthaufen des gleichnamigen Etablissements steht der bärtige Ludwig mit einer Mistforke und scheißt in seine Windeln, die kleinwüchsige Oma Wendy kommt mit ihrem Kinderfahrrad daher und zeigt ihre kühn gekreuzten Vorderzähne, und dann sind da noch Bibi, 17, Resozialisierungsfall, und Küwi, der Zwei-Meter-Mann mit dem Gemüt eines Fünfjährigen.

Nach Hamburg-Osdorf geht es in Andreas Stichmanns zweitem Roman „Die Entführung des Optimisten Sydney Seapunk“. Es geht mitten hinein in eine Welt der Problemfälle und gleich auch wieder hinaus. Dank einer Utopie und einer mittelschweren Erpressung. Aber erst einmal eins nach dem anderen.

Vor Jahrzehnten schon hat Ingrid, die Mutter von Ramafelene Meißner, ein soziales Wohnprojekt namens Sonnenhof ins Leben gerufen, das leider in der Gegenwart nicht mehr ganz so glänzend dasteht wie in seinen hippiesken Anfangszeiten. Auch wenn Sohn Meißner mittlerweile übernommen hat.

Ein letzter Hahn hat überlebt

Die Betreuten sind ebenso in die Jahre gekommen wie das Ladencafé, im Hühnerstall zieht als letzter Überlebender ein Hahn seine Runden, und während die Mutter sich nichts sehnlicher wünscht als eine Herzoperation („Ich brauche eine Herzoperation!“), muss der Sohn Ramafelene neben einem Tinnitus auch noch mit klammen Kassen zurechtkommen.

Auftritt Sydney Seapunk, der eigentlich David van Geelen heißt und der vor seiner Karriere als Focusing-Trainer und Krankenhausclown vor allem eines war: Erbe eines hamburgtypischen Vermögens und präsumtiver Teilhaber der Van Geelen KG. Als schwarzes Schaf der Familie hat er sich aber von allem losgesagt und ist in ökologischem Eifer durch die Welt gereist.

Jetzt steht er da: um einige Illusionen ärmer, aber zur nächsten Utopie bereit. Dem Sonnenhof möchte er ein paar Millionen zukommen lassen, die er aber selbst nicht mehr besitzt. Er beschließt, seinen eigenen Bruder zu erpressen und sich selbst als entführt auszugeben. In Andreas Stichmanns Roman sind wir damit in einem Inferno prekärer Mutterliebe: Um sich wenigstens posthum die Zuneigung der verstorbenen Mutter zu sichern, will der Bruder das Lösegeld für deren Lieblingssohn zahlen.

Im Radius des Pikaresken

„Die Entführung des Optimisten Sydney Seapunk“ ist ein Schelmenroman, der den Radius des Pikaresken, des Möglichen und Unmöglichen munter durchschreitet. Die Insassen des Wohnprojekts sind im Geiste wundersam oder physisch gehandicapt oder beides, aber sie tragen eine Weltweisheit in sich, die den Leser vor die Frage stellen soll, wo eigentlich mehr Normalität herrscht: drinnen oder draußen. In der Hüttensiedlung der Außenseiter oder in der Rationalität der Welt drumherum.

Vielleicht ist es kein Zufall, dass erst kürzlich mit Emma Braslavskys „Leben ist keine Art mit einem Tier umzugehen“ ein ähnlicher Roman erschienen ist. Auch dort geht es um moderne Ideen der Weltverbesserung und um ihr Scheitern, um das mitunter Groteske des Versuchs, die Wirklichkeit bewohnbarer zu machen.

Pizza für alle

Als Stichmanns Sydney Seapunk als gut zahlender Mieter ins Wohndorf einzieht, ist erst einmal genug Geld da, ein zivilisiertes Leben zu führen. Und das heißt: Pizza für alle. Bestellt beim Pizzaservice. Und dazu die „Internationale“ auf der Hammond-Orgel. Ist die größte Not erst einmal gelindert, gehen die Debatten darüber, wie man leben soll, los.

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Es ist der Berufsutopist Seapunk, der Ramafelenes Mutter wieder Leben einhaucht, bis in einem Akt ihrer Selbstbefreiung die Althippiehaare fallen und sie schließlich Vollglatze trägt. Für einen neuen Anfang ist es nie zu spät. „Fairtablets“ werden angeschafft, um online die Gedanken über globale Umverteilungsaktionen zu beflügeln, aber natürlich gelangen mit den Tablets auch Unterhaltungstrojaner wie Netflix ins betreute Wohnen.

Andreas Stichmanns Ästhetik folgt über weite Strecken den arbiträren Wegen der Figuren. Nichts ist wirklich zwingend in ihrem Alltag der Paranormalität, und auch der Text lässt sich gerne treiben. Er lebt von Einfällen, mit denen der Mikrokosmos des Sonnenhofs zwar plastisch wird, der Gesamtplot bisweilen aber deutlich an Fahrt einbüßt. „Die Entführung des Optimisten Sydney Seapunk“ ist weniger von Stringenz getragen als von den Miniaturen, die Stichmann entwickelt. Und er bringt da immerhin einiges unter.

Suche nach Gerechtigkeit

In der freien Natur lässt sich von einer freieren Welt träumen, wie das schon die Achtundsechziger getan haben, deren Geist über dem Sonnenhof schwebt. Gleichzeitig sind mit David van Geelen alias Seapunk die neueren Modelle ökonomischer Gerechtigkeit präsent. Von den transnationalen, oft privat initiierten Unternehmungen, die Bewohner der Dritte-Welt-Länder am Reichtum der Ersten Welt teilhaben zu lassen, schlägt diese durchgeknallt-märchenhafte Groteske einen Bogen bis zur Hipster-Seapunk-Kultur und von den elektronischen Beats bis zur Esoterik.

Große Operette ist es, wenn Sebastian van Geelen das besondere Verhältnis des Seapunk-Bruders zur Mutter auslotet. Wie aus den Rippen geschnitten soll ihr der sein, weil beide beim Hören der Hamburger Symphonien von Carl Philipp Emanuel Bach auch die Farbe Türkis spüren. Sie sind große Synästhetiker vor dem Herrn. Und „Türkis wiederum hat die Affirmationen Unendlichkeit, Utopia, Massenkommunikation, Atlantis“. Also alles, was in der Seapunk-Kultur eine Rolle spielt.

Die Welt in Andreas Stichmanns Roman kann ziemlich steil sein. Sie ist so zusammengebastelt wie die Häuschen des Sonnenhofs und zumindest so speziell wie dessen Bewohner. Mit anrührender Genauigkeit lässt der 1983 in Bonn geborene Autor sie in ihrem Paradies walten. Er zeigt die zarten Bande zwischen ihnen und ihre Marotten, die oft nichts anderes sind als fehlgeleitete künstlerische Talente.

Affirmation Atlantis

Man läuft mit Metalldetektoren herum, wie Küwi, man gräbt und macht, oder man reimt unaufhörlich, so wie die Altzwergin Wendy. Kein Bruttonationalprodukt wird damit angehoben, aber glücklich macht es doch. Und es ist in der heutigen Literatur schon eine Leistung, neben all den dystopischen Romanen, die aus aktuellen politischen Landschaften heraus entwickelt sind, die Utopie neu zu installieren. Affirmation Atlantis. Und in den Hütten nur Heiterkeit.

„Das große Leuchten“, so hieß 2012 Andreas Stichmanns vielfach gelobtes Romandebüt, und schon dieser Titel war Zeichen für die Hoffnung, dass hinter den Menschen und Dingen nicht immer nur der finstere Abgrund lauert. Die Illuminationskunst des „großen Leuchtens“ ist auch beim neuen Buch Programm. Stichmann verschiebt die Wörter und Bedeutungen, bis das sanfte Licht der Menschlichkeit aus den Ritzen tritt.

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Und das ist in der heutigen Gegenwartslage immerhin eine Ansage. Eine literarische zumindest. In Romanen wie diesem kann nichts schiefgehen, außer dass die Figuren sich an ihren Gefühlen überheben, dass sie aneinander vorbeireden und -lieben. Und das kommt im Buch recht häufig vor.

Showdown als Slapstick

Das Heimkind Bibi verliebt sich in Ramafelene, dessen afrikanischer Name eine Reminiszenz an Stichmanns frühen Erzählband „Jackie in Silber“ ist. Ungleich ist das aus einem Heimkind und dem verschüchterten Sozialarbeiter bestehende Paar, und weil am Ende grüblerische Vernunft und dranghafte Pubertät nicht zueinanderfinden, freut sich ein Dritter, was beim Showdown des Romans eine gewisse Rolle spielt.

Die Lösegeldübergabe gerät zur großen Slapsticknummer, bei der alles anders kommt als geplant. Es gibt ein paar Kollateralschäden und einen Schwerverletzten. Aber insgesamt geht „Die Entführung des Optimisten Sydney Seapunk“ natürlich gut aus. Kein Grund für diesen Herrn, auf die alten Tage noch pessimistisch zu werden. Alles in Türkis.

Andreas Stichmann: „Die Entführung des Optimisten Sydney Seapunk“. Rowohlt, Reinbek. 240 S., 19,95 €.

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