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Literatur Joseph Conrad

Hier wird die Moderne zum Abenteuer

Chefkorrespondent Feuilleton
circa 1960: A bust of Joseph Conrad as a figurehead on the prow of The Joseph Conrad, a training ship built in Copenhagen in 1882. (Photo by Three Lions/Getty Images) circa 1960: A bust of Joseph Conrad as a figurehead on the prow of The Joseph Conrad, a training ship built in Copenhagen in 1882. (Photo by Three Lions/Getty Images)
Gallionsfigur: Joseph Conrad am Bug der "Joseph Conrad", einem 1882 in Kopenhagen gebauten Segelschiff
Quelle: Getty Images
Der britische Schriftsteller Joseph Conrad gilt vielen als imperialistischer Chauvi. Zu Unrecht. Sein Roman „Die Schattenlinie“ erzählt von Wahn, Verzweiflung und einer Männlichkeit am Abgrund.

„Drei hohe Fenster blickten auf den Hafen“, heißt es in Joseph Conrads 1917 erstmals erschienenem Roman „Die Schattenlinie“. „In ihnen war nichts zu sehen als die dunkelblau glitzernde See und das blassere Blau des Himmels. In der fernen Tiefe dieser Blautöne konnte ich den weißen Fleck eines großen Schiffs ausmachen, das gerade eingelaufen war und auf der äußeren Reede vor Anker ging.“ Heute, 100 Jahre später, erscheint uns der Autor selbst als ein gigantisches Schiff, das aus dem 19. Jahrhundert in die Moderne segelt, ein weißer Fleck, unterschiedlich getönt, je nachdem, ob man den Himmel oder die glitzernde See in den Blick nimmt.

Hannah Arendt, die in den Fünfzigerjahren wie eine jäh aufflatternde Möwe der Minerva zurückschaute auf den rassistischen, totalitären Schrecken des Nationalsozialismus, sah in Conrad einen feinfühligen Apologeten des Imperialstrebens weißer Männer. Sie dachte zuerst an die berühmte Erzählung „Das Herz der Finsternis“, in der Conrad eine Bootstour den Kongo hinab als fiebrige, grausame Phantasmagorie schildert. Aber auch in der „Schattenlinie“, jetzt neu übersetzt bei Hanser erschienen (420 S., 30 €) wäre sie fündig geworden.

Es ist die Geschichte einer Männlichkeitsprüfung, ein homoerotischer Bildungsroman, in dem es bloß zwei Frauen gibt, und auch nur, wenn man das Schiff dazuzählt, dessen Kommando dem Erzähler in den Schoß fällt; Schiffe sind bekanntlich weiblich. Die andere ist eine zahnlose Hexe im Hafen von Bangkok, die den Menschenhass und die Selbstsucht des siechen Vorgängerkapitäns nährt, bis er den lebenswichtigen Vorrat an Chinin verhökert und seine Mannschaft damit über den Tod hinaus verflucht.

Heimliche Motive des Kriegs

Vor diesem Hintergrund entfaltet sich das windstille Tableau einer inneren Reife, eines Wachsens an Verzweiflung und Enttäuschung. „Es ist das Vorrecht der frühen Jugend“, heißt es auf eingangs, „ihren Tagen voraus zu sein, in der herrlichen Fortdauer einer Hoffnung zu leben, die kein Innehalten kennt und keine Selbstbetrachtung.“ Und: „Die Zeit schreitet auch voran – bis man nicht weit voraus eine Schattenlinie sichtet, die einen mahnt, man müsse auch das Reich der frühen Jugend hinter sich lassen.“

Conrad schrieb den Roman mitten im Ersten Weltkrieg, 1916, sein Sohn Borys hatte sich siebzehnjährig freiwillig gemeldet. Ihm und „allen anderen, die wie er die Schattenlinie ihrer Generation in früher Jugend überquerten“ ist das Buch „in Liebe gewidmet“. Die Erzählung selbst spielt dann fern von Flakfeuer und nächtlichen Zeppelinattacken, von Senfgas und Panzerketten in der trügerischen Ruhe des Indischen Ozeans.

Conrad flicht allerdings heimlich Motive in den Text, die keinen Zweifel lassen, wie sehr ihm die europäische Mordindustrie vor Augen stand. „Am Himmel geht etwas vor,“, schreibt er, „es ist wie eine Zersetzung, wie eine Vergiftung der Luft, die so still steht wie eh.“ Oder: „Das trübe Licht der wenigen Sterne über uns fiel – kein Schimmer lag auf dem Wasser – allein auf das Schiff; seine einzelnen Strahlen durchdrangen eine Atmosphäre, die in Ruß verwandelt schien.“ Eine kurze Nachbemerkung schließt er ab mit den Worten: „Denn es ist wahrhaftig eine große Sache, eine Handvoll Männer befehligt zu haben, die einer unvergänglichen Hochachtung wert sind.“

Der alte Mann und das Meer: der Autor Joseph Conrad
Der alte Mann und das Meer: der Autor Joseph Conrad
Quelle: Getty Images

Wer den Autor wegen solcher XY-Chromosom-Sentimentalitäten aber ruckzuck in des toten weißen Machomanns Mottenkiste legen und eine Buddel Rum beziehungsweise ein Gläschen Prosecco drauf trinken wollte, der läge so falsch wie die vermaledeite Bark, die knapp drei Wochen lang in einer entsetzlichen, verpesteten Flaute dümpelt.

Was nach Chauvinismus aussieht, ist in Wahrheit Selbstzerfleischung, vermeintliche Stärke entpuppt sich bei genauer Lektüre als Zartheit und Stolz als Melancholie. Das Personal mag männlich sein, aber Conrad war nun einmal zur See gefahren, 1888 auf der „Otago“, seinem einzigen Kommando, von Bangkok nach Singapur, alles so weit autobiografisch, von Frauen war damals wohl nicht viel zu sehen.

Im Roman ist die Mannschaft vom Fieber niedergestreckt, fünf haben „Saft und Kraft von, sagen wir, zweien“. Der erste Offizier kommt 100 Seiten lang nicht aus dem Bett und sieht am Ende, als die Rettung da ist, aus „wie eine scheußliche, aufwendig ausstaffierte Vogelscheuche, die man auf der Poop eines todgeweihten Schiffs gestellt hatte, um die Seevögel von den Leichen fernzuhalten“. Der Kapitän begrüßt die kopfschüttelnden Marineärzte als „einsame Gestalt in blaugrau gestreiftem Schlafanzug und mit einem Tropenhelm auf dem Kopf“. Idealisierte Männlichkeit sieht anders aus.

Ein Dandy, weit ab vom Schuss

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Und auch der Autor legte weniger Wert auf pazifische Raubeinigkeit als auf Pariser Eleganz. Bei dem Ausrüster der „Otago“ auf Mauritius hatte Conrads Auftritt einen so bleibenden Eindruck hinterlassen, dass er sich noch Jahrzehnte später daran erinnerte: „Kapitän Korzeniowski war immer wie ein Dandy gekleidet“, dunkles Jackett, helle Weste, „modische Hosen; alles gut geschnitten und stilvoll; ein schwarzer oder grauer Bowler etwas schräg auf dem Kopf. Immer trug er Handschuhe und einen Stock mit Goldknauf.“ Seine Kapitänskollegen, denen er förmlich und knapp begegnete, gaben ihm den Spitznamen „der russische Graf“.

Ein Dandy, weit ab vom Schuss. In Paris, der Hauptstadt des 19. Jahrhunderts, hatten mondäne Tunichtgute angeleinte Schildkröten spazieren geführt, um mit dieser Zeitverschwendungsperformance brave Bürger zu schocken. Conrad, die wandelnde „Absurdität“, wie er sich in einem Brief einmal selbst nannte, war mit Handschuhen, Bowlerhut und goldenem Gehstock bis ans Ende der Welt gefahren, über den dekadentesten Horizont hinaus, wo die Schildkröten nicht an Leinen gingen, sondern schwammen und tauchten, als wilde, freie Geister, in einer Gegend, in der die europäische Idee von Zivilisation, die eben nicht nur äußeren Zwang, sondern auch innere Elastizität bedeutet, vor allem in den Köpfen weißer Männer existierte. Es ist entscheidend, diese Dialektik zu verstehen; ohne sie wäre das Bild flach, ohne Schillern und Schattierungen.

Joseph Conrad, der Fahnenflüchtling einer russischen Besatzungsmacht, der kleine Landadelige, der unbedingt aufs große Meer wollte – vielleicht weil ihm sein Vater, ein patriotischer Poet, siebenjährig Odessa gezeigt hatte, zum schwachen Trost für den frühen Tod der Mutter, kurz bevor er selbst verschied –, lernte erst im Alter von 19 Jahren die englische Sprache und wurde zu einem ihrer größten Stilisten. Er verstand sich auf Segelschiffe, auf Pützen, Poop, Back, Luv, Lee, Schoten, Fallen, Rigg und Rahen, und also auf die letzte romantische Handarbeit mitten im heranbrausenden Orkan der Industrialisierung. Conrad war ein Pole zwischen Polen.

Auf einer Leinwand aus Segeln und mit den Wasserfarben des Meeres malt er radikale Innenansichten, psychologische Studien von Menschen, die sich abhandenkommen, ein Edvard Munch im Golf von Thailand. „Mein erstes Kommando“, sagt der Erzähler in „Die Schattenlinie“, die „Ein Bekenntnis“ untertitelt ist. „Jetzt verstehe ich dieses seltsame Gefühl von Unsicherheit in meinem früheren Leben. Ich hatte schon immer den Verdacht, dass ich nichts tauge. Und hier ist der Beweis. Ich weiche aus. Ich tauge nichts.“

Ein Vergleich der Manuskriptfassungen der „Schattenlinie“ zeigt, dass Conrad immer energischer strich, besonders in den Beschreibungen geistiger Zustände, des Wahnsinns, der Verzweiflung, bis nur noch die Löcher übrig bleiben, in denen sich der Erzähler verliert. Das Meer ist der Spiegel dieses Prinzips: „Dann stieg ich hinab zum Achterdeck. Es war unmöglich vorherzusagen, woher der Schlag kommen würde. Blickte man sich um auf dem Schiff, dann blickte man in den bodenlosen schwarzen Abgrund. Das Auge verlor sich in unvorstellbaren Tiefen.“

Das ist die erzählerische Ausgestaltung einer Äußerung des alten Henry James, eines engen Freundes von Conrad, im „New York Times Magazine“ vom März 1915, in der er die These vom modernen Sprachverlust variiert: „Der Krieg hat die Worte ausgezehrt; sie sind ermüdet; sie haben sich abgenutzt wie Autoreifen; wie Millionen anderer Dinge wurden sie in den letzten sechs Monaten stärker belastet, umhergeworfen und ihrer Darstellungskraft entleert als in allen früheren Zeitaltern, und wir sind jetzt konfrontiert mit einer Entwertung aller unserer Vorstellungen oder, anders gesagt, mit einem durch wachsende Erschlaffung bewirkten Verlust an Ausdruckskraft.“

Das vom Tod verfolgte Kommando

Daniel Görske, Herausgeber und Übersetzer der Neuausgabe der „Schattenlinie“, berichtet von Conrads Arbeit an der Sprache, der „befremdlichen Eigenart“ seiner Prosa, den vielen „leitmotivisch wiederholten Wendungen“, der „ungewöhnlichen Wortwahl“, dem „abstrakten Nominalstil“ und der „ausdrucksvollen Metaphorik“, kurz gesagt, seiner „Verbindung von Lakonie und Pathos“.

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Dem gicht- und malariageplagten Schriftsteller gelingt so das Kunststück, die Moderne als Abenteuer zu erzählen. Das äußerliche ereignislose Driften des in der Windstille impotenten Dreimasters in der Abstraktion menschenleerer Horizonte gerät zum maritimen Warten auf Godot: „Da liegt alles von mir: Sterne, Sonne, Meer, Licht und Finsternis, der Weltraum, die großen Wasser, das ganze formidable Werk der sieben Tage, in das die Menschheit offenbar ungefragt hineingestolpert ist. Oder hineingelockt wurde.“

Lucky heißt hier Frenchy. Niemand weiß, ob der „kleine, rührige Rotschopf“ wirklich Franzose ist. „Die beharrlich beschwingte Munterkeit seines Gangs bezeugte, sogar wenn der arme Kerl ins Taumeln kam, seinen unbezwingbaren Charakter.“ Das effektivste Aufbäumen gegen die feindlich gesinnte Welt liegt darin, sie in Sprache zu verwandeln: „Die brütende Stille der Welt um uns“, heißt es einmal, „war wie eine Flüstergalerie, die noch den leisesten Laut weiterleitet.“ Conrad horcht und schreibt.

Die neue Übersetzung schließt sich solcher Perfektion an und ist so schön und folgerichtig wie die Gestaltung des Buchs. Es ist in marineblaues Leinen geschlagen und damit eine doppelte Verkörperung des Romans – blau wie das Meer, Grundbass der Geschichte, und aus Leinen wie die Hosen und selbst geschneiderten Mützen der Männer, die Conrads Alter Ego bei seinem „vom Tod verfolgten Kommando“ begleiten.

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