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Literatur Schecks Kanon (9)

Hemingways Formel für echte Männlichkeit

KENYA - SEPTEMBER 1952: Author Ernest Hemingway poses for a portrait while on a big game hunt in September 1952 in Kenya. (Photo by Earl Theisen/Getty Images) KENYA - SEPTEMBER 1952: Author Ernest Hemingway poses for a portrait while on a big game hunt in September 1952 in Kenya. (Photo by Earl Theisen/Getty Images)
Schriftsteller und Großwildjäger: Ernest Hemingway (1899 bis 1961)
Quelle: Getty Images
Ganze Generationen haben sich an Ernest Hemingway besoffen und sind verkatert aufgewacht. Zu viel Heroismus, zu viel Machotum. In einer Erzählung jedoch dringt Hemingway zu einer tiefen Wahrheit vor.

„Was würden Sie lieber tun, ne Tracht Prügel einstecken oder Ihr Gehalt einbüßen?“ Manchmal sind es die ganz einfachen Fragen, die ins Herz der Dinge führen. Ernest Hemingway ist ein Meister solcher Fragen – keineswegs nur in „Das kurze glückliche Leben des Francis Macomber“. Fragen danach, was Geld, Gier und ein kapitalistisches Wirtschaftssystem im Kopf eines Menschen anrichten. Fragen nach dem geglückten Leben und dem gerechten Tod. Fragen nach Männlichkeit und dem Wesen des Muts, den Hemingway 1928 in seiner berühmten Antwort im Interview mit Dorothy Parker als grace under pressure definiert, also als die Fähigkeit, Anmut unter Stress an den Tag zu legen.

Aber Hemingway heute? Ganze Generationen haben sich an diesem Autor besoffen und sind mit einem üblen Kater aufgewacht. Zu viel Heroismus, zu viel hohle Pose, zu viel ödes Machotum. „Sie wissen doch, in Afrika verfehlt keine Frau je ihren Löwen, und kein Weißer nimmt Reißaus.“

Hemingway legt in „Das kurze glückliche Leben des Francis Macomber“ diesen Satz dem Berufsjäger Robert Wilson in den Mund. Und genau davon handelt diese Geschichte, die nur 48 Seiten lang ist und doch ganze Bibliotheken aufwiegt: der 35-jährige Amerikaner Francis Macomber hat auf einer Safari gerade seinen Löwen verfehlt, ja schlimmer noch, er hat Reißaus genommen „wie ein Hase“.

Begegnung mit dem Löwen

Ich bin vor einigen Jahren einmal in Afrika einem brüllenden Löwen auf Schrittweite gegenübergestanden. Auf einer Hunting Lodge, spezialisiert auf Filmaufnahmen, keine zwei Autostunden von Johannesburg entfernt. Es war ein Straßenstrich der Tiere. Für relativ kleine Münze kann man dort mit afrikanischen Wildtieren drehen.

Gerade, als der Wärter mich fragte, ob ich lieber mit dem Löwen des Rudels oder einer Löwin drehen wollte, hieb der Löwe mit der Pranke nach dem durchs Gitter gesteckten Stock des Wärters und brüllte. Zu sagen, das Gebrüll des Löwen sei laut gewesen, trifft es nicht ganz. Es war ein Gebrüll, das die Erde unter den Füßen beben ließ und von dort direkt in den Magen fuhr. Ein Gebrüll, das nichts übrig ließ außer dem Löwen und die Angst vor ihm.

KENYA - SEPTEMBER 1952: Author Ernest Hemingway stalks an elephant while on a big game hunt in September 1952 in Kenya. (Photo by Earl Theisen/Getty Images)
Jäger und Gejagter: Ernest Hemingway im September 1952 in Kenia
Quelle: Getty Images

Von dieser Angst erzählt Ernest Hemingway. Auch Francis Macomber hört den Löwen selbst dann noch brüllen, als der Berufsjäger den Löwen, vor dem er weggelaufen ist, erschossen hat. „Die Angst war noch da, wie in kaltes, schleimiges Loch in all der Leere, wo früher einmal sein Selbstvertrauen gewesen war, und sie erregte ihm Übelkeit. Er konnte seine Frau ruhig im Schlaf atmen hören. Da war niemand, dem er sagen konnte, dass er Furcht hatte, niemand, der sich mit ihm fürchtete, und da lag er allein und kannte das Somali-Sprichwort nicht, das sagt, dass ein tapferer Mann immer dreimal vor einem Löwen Angst hat; wenn er zum ersten Mal seine Spur sieht, wenn er ihn zum ersten Mal brüllen hört und er ihm zum ersten Mal gegenübersteht.“

„Angst weg wie durch Operation“

Hemingway erzählt die Geschichte eines Mannes, den zunächst seine Angst überwältigt, der daraufhin von seiner Frau gedemütigt und betrogen wird, bis er unverhofft seine Angst überwindet und frei wird. „Angst weg wie durch Operation“, heißt es in Hemingways Erzählung. „Etwas anderes wuchs an ihrer Stelle. Das Wesentlichste, was ein Mann hatte. Machte ihn zum Mann. Frauen kannten es auch. Keine Scheißangst.“

Eine Frau, Gertrude Stein, gab Ernest Hemingway zu Beginn seiner Karriere den besten Ratschlag mit auf den Weg, der je einem angehenden Schriftsteller erteilt wurde: „Alles, was du tun musst, ist, einen wahren Satz zu schreiben. Schreib den wahrsten Satz, den du weißt.“ Für Hemingway bedeutet dieses Ringen um Wahrheit in erster Linie, sich der Erfahrung des Todes auszusetzen, unserer Sterblichkeit, denn alle Geschichten enden, weiß Hemingway, „wenn man sie weit genug verfolgt, mit dem Tod, und der ist kein echter Geschichtenerzähler, der Ihnen das vorenthält.“

Aus dieser Erkenntnis entsteht der Hemingway-Sound, jener süchtig machende Dreiklang aus Liebe, Schönheit und Tod. „Das kurze glückliche Leben des Francis Macomber“ ist eine Geschichte übers Erwachsenwerden. Sie vermag die Begegnung mit einem Löwen nicht zu ersetzen. Aber sie kann darauf vorbereiten.

Die Klassiker-Kolumne „Schecks Kanon“ erscheint jeden Samstag in der „Literarischen Welt“. Ihre Hintergründe erklärt Denis Scheck hier. „Schecks Kanon“ ist als Podcast bei WDR 5 zu hören und als Video beim SWR zu sehen.

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